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Glaubwürdigkeit der UN untergraben

Von Ritt Goldstein

Politik

Nur wenige Stunden nach den verheerenden Anschlägen in Madrid traf der UN-Sicherheitsrat zusammen. In einer fünfminütigen Sitzung nahmen die 15 Mitgliedstaaten einstimmig eine Resolution an, in der die baskische Separatistengruppe ETA für die tödlichen Angriffe verantwortlich gemacht wird. Die "Washington Post" titelte jedoch am Montag: "El Kaida in Anschläge von Madrid verwickelt" und Gerüchte über eine Manipulation der Öffentlichkeit verdichteten sich.


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Spaniens Volkspartei musste sich in der Wahl am Sonntag den Sozialisten geschlagen geben. Ein Grund für diese Niederlage waren die Anschuldigungen, dass die Regierung Informationen über die Anschläge zurückgehalten hatte, um die Wahl zu beeinflussen.

Eine harte Vorgehensweise gegen die ETA war ein wichtiger Teil der Politik der Volkspartei. Wenn ein solch verheerender Bombenanschlag wirklich von der ETA verübt worden wäre, wäre das fast wie eine Garantie für den Wahlsieg des von Premier Aznar ausgewählten Nachfolgers gewesen. Eine Mitbeteiligung des islamischen Djihad an dem Albtraum hätte jedoch angesichts der fast hundertprozentigen Ablehnung der Irakkrieg-Beteiligung Spaniens durch die Wähler gravierende Auswirkungen für die Volkspartei gehabt - und genau so war es dann auch.

Auf die Anschläge hatte die Regierung in Madrid sofort reagiert: Laut spanischem Innenminister Angel Acebes hatte es "keinen Zweifel" an der Täterschaft der ETA gegeben.

Nun können in Spanien politische Interessen vielleicht das Urteilsvermögen trüben - was aber ist mit den 14 anderen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats? Bemerkenswert ist, dass dies das erste Mal war, dass der Sicherheitsrat eine bestimmte Gruppe ausdrücklich verurteilt hat - noch dazu in fünf Minuten.

Auf die Frage, warum der Sicherheitsrat die ETA verantwortlich gemacht hat, sagte der Ratspräsident Jean-Marc de la Sabliere (Frankreich): "Die spanische Regierung teilte dies mit, die spanische Delegation ersuchte den Sicherheitsrat, es in ihre Resolution aufzunehmen und die Mitglieder des Rates akzeptierten es". Der US-Botschafter bei der UNO, John Negroponte, erklärte, dass die Schuld auf Drängen der spanischen Regierung der ETA gegeben wurde, und weil "es die Einschätzung der spanischen Regierung war, dass diese Anschläge von der ETA verübt wurden und wir hatten keine gegenteiligen Informationen".

Trotz auftauchender Zweifel und obwohl der Chef von Europol die Beteiligung der ETA in Frage gestellt hatte, entschied sich der Sicherheitsrat, die ETA zu verurteilen. Es zeugt jedoch von einer gewissen Distanzierung, wenn Ratsmitglieder wie Frankreich und Deutschland darlegen, dass sie auf Wunsch der spanischen Regierung so gehandelt haben. Somit kann die Handlungsweise des UN-Sicherheitsrates von Anfang an als fragwürdig angesehen werden.

Am Samstag, als spanische Demonstranten ihre Regierung beschuldigten, die ETA-Theorie für ihre eigenen Zwecke einsetzen zu wollen, wiederholte Innenminister Acebes, dass die ETA der Hauptverdächtige sei. Bereits am Donnerstag hatte die spanische Polizei jedoch einen Kleinlaster entdeckt, in dem Zündvorrichtungen und ein Tonband mit Koran-Versen gefunden wurde. Außerdem bestritt die ETA diesmal ausdrücklich, eine Beteiligung an den Anschlägen. Sie nannte die Attacken auch "eine Operation des arabischen Widerstandes" und eine Gruppe, die mit der El Kaida in Verbindung steht, gestand zur gleichen Zeit, die Bomben gelegt zu haben. In dem angeblichen El Kaida-Bekennerschreiben vom Donnerstag, verspottete die Gruppe "Abu Hafs al-Masri Brigaden" Aznar und die Irak-Kriegskoalition: "Aznar, wo ist Amerika? Wer wird dich, Großbritannien, Japan, Italien und andere vor uns beschützen?" Und plötzlich wurde jenes Schreckgespenst eines zunehmenden Terrorismus im Anti-Terror-Krieg Wirklichkeit, vor dem westliche Geheimdienste gewarnt hatten. Ebenso wurde die Verletzlichkeit der Regierungen in der Front für den Irak-Krieg offenkundig: Sie werden abgewählt, nachdem viele von ihnen den Krieg gegen massive Proteste der Bevölkerung unterstützt haben. Die spanische Regierung war die erste in dieser Kategorie, die einen Verlust einstecken musste - trotz der Sicherheitsrats-Resolution, die ihr das Recht gegeben hätte weiterzumachen. Es wurde auch versucht, diese Berechtigung für die Wahlen am Sonntag aufrecht zu halten, indem weiter behauptet wurde, die ETA sei verantwortlich.

"Einige Spanier übten vernichtende Kritik daran, dass Aznar die öffentliche Meinung über die Bombenanschläge manipuliert hat", berichtete die Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag. Im US-Fernsehen betonten Außenminister Colin Powell, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice am gleichen Tag, dass es nicht genügend Beweise gäbe, um festzustellen, wer für die Anschläge in Madrid verantwortlich ist. Das alles war aber lange nachdem der UN-Sicherheitsrat die ETA verurteilt hatte.

Bisher hat die US-Regierung unter George W. Bush für alles die El Kaida verantwortlich gemacht - diesmal, noch dazu bei eindeutigen Hinweisen auf eine islamische Beteiligung, bemerkenswerterweise nicht.

Powell, Rumsfeld und Rice betonten noch einen Aspekt: Die Welt solle noch mehr Entschlossenheit im Kampf gegen den Terror zeigen. Rice versicherte, dass der Krieg gewonnen werde. Ihr Fernsehauftritt hatte Elemente einer Motivationsrede. Deutlich wird das Motiv, den Anti-Terror-Krieg und die Unterstützung dafür aufrecht zu erhalten, angesichts der Ankündigung des neuen spanischen Premierministers, Jose Luis Rodriguez Zapatero, die spanischen Friedenstruppen aus dem Irak abziehen zu wollen.

Rumsfeld verstrickte sich in Widersprüche, als er Bemühungen der Front gegen den Terror mit "Hilfe für Nachbarskinder gegen brutale Schläger, die sie einschüchtern," verglich. Der Verteidigungsminister scheint vergessen zu haben, dass viele UN-Mitglieder Bush vor dem Irak-Krieg beschuldigt haben, genau solche "Schläger"-Methoden angewendet zu haben.

UN-Generalsekretär Kofi Annan ist es hoch anzurechnen, dass er wiederholt Fragen über die Verantwortlichen der Anschläge von Madrid ausgewichen ist. Er demonstrierte gleichzeitig die Schwäche der UNO gegenüber der Politik von Großmächten. Der Völkerbund, Vorgänger der UNO, löste sich in den 1930er-Jahren auf, als die damaligen Weltmächte beschlossen, Wege einzuschlagen, die mehr ihren nationalen als multilateralen Interessen dienlich waren.

Ein Bericht des US-Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 1999 betont, dass eine multilaterale Welt, eine Welt mit mehr als einem Machtzentrum, der beste Weg sei, um eine dauerhafte globale Stabilität zu sichern. Es wird davor gewarnt, dass "internationale Systeme zwei oder drei Generationen überdauern. Sie werden durch überregionale Konflikte sowohl geschaffen wie auch zerstört. Wie komplexe biologische Systeme, scheinen internationale Systeme Lebensphasen zu durchlaufen: Geburt, Flexibilität in der Jugend, zunehmende Verhärtung während das System reift und Untergang".

Viele internationale Diplomaten fordern eine "Überprüfung und Erneuerung" der UNO, vor allem aber des Sicherheitsrates.

Übersetzung: Barbara Ottawa