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Gleichgewicht des Schreckens

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Analysen

Produktiv ist der Raketenbeschuss für Palästinenser nicht. Israel fehlt es an klar definierten Zielen der Operation, sagen Experten.


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"Das Herstellen eines Gleichgewichts des Schreckens" sei das Ziel der Hamas in der aktuellen Krise, sagt die deutsche Politikwissenschafterin Helga Baumgarten. Dieses versuche die Hamas in Reaktion auf die anhaltende Bombardierung des Gazastreifens durchzusetzen, indem sie auch in Israel Panik und Angst unter den Menschen schürt. Doch wer an dieser Stelle haltmache, könne die Bewegung und ihre Beweggründe nicht verstehen. Die Hamas sei trotz militanten Widerstands vor allem eine politische Partei, die unterm Strich kein anderes Ziel habe als die Fatah und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas: die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates im Gazastreifen und dem Westjordanland mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Doch der Raketenbeschuss auf Israel ist weder rational noch produktiv für Palästinenser und deren Ziele, sagt Baumgarten.

Besonders gefährlich an der aktuellen Eskalation sei die Wechselwirkung beidseitiger Unsicherheiten, sagt der israelische Politikwissenschaftler Shaul Mishal. Israel wirke deshalb unsicher, weil es weder ein klar definiertes Ziel der Operation gäben noch einen konkreten Plan für die nächsten Tage. Floskeln wie "die Hamas wird zahlen" oder "Israel muss sich verteidigen" ersetzen für Mishal nicht die Notwendigkeit langfristiger Überlegungen. Stattdessen warnt er vor gefährlichen Konsequenzen. "Beide Seiten versuchen herauszufinden, was abläuft, indem sie auf die Aktionen der anderen reagieren. Alles wird relativ", sagt Mishal. Unklarheit sei der gefährlichste Vorbote von Eskalation. Kein Ziel, kein klares Ende.

Diese gefährliche Wechselbeziehung von beidseitiger Unsicherheit läuft Hand in Hand mit "Israels Unfähigkeit, über das Eindimensionale hinaus zu blicken", so Mishal. "In Israel schaut man nur durch die Ideologie-Brille auf die Hamas, anstatt Ideologie und Pragmatismus zu trennen." Dieser enge Blick habe auch mit einem Zeitgeist zu tun, dem Israel hinterherhinke. Während der Nahe Osten immer mehr von nicht-staatlichen Gruppierungen dominiert wird, bleibe Israel in dem Glauben stecken, dass die Region aus klar positionierten Nationalstaaten besteht und dass
Israel seine Vormachtstellung durchsetzen kann. Bewegungen wie die Hamas werden als einförmiger Klops gesehen, Staaten als komplizierte Gebilde.

"Ich glaube, auch wenn es spekulativ ist, dass die Hamas die israelische Armee in den Gazastreifen hineinziehen will", sagt der Nahost-Korrespondent des britischen Magazins "Economist", Nicolas Pelham. Eine israelische Invasion werde vom militärischen Flügel als Chance gesehen. Langfristig verfolge die Hamas damit ein größeres Ziel: "Indem die Hamas Israel nach Gaza bringt, bringt sie Gaza zurück nach Israel-Palästina." Die Hamas will Gaza zurück in den Alltag nahöstlicher Politik tragen.

Seit die Hamas vor sechs Jahren die Macht im Gazastreifen an sich riss, war sie großteils selbst für die Bevölkerung verantwortlich. Lässt sich Israel nun tief hineinziehen oder besetzt gar Teile des Gazastreifens dauerhaft, wäre es verantwortlich, die Wirtschaft und Energieversorgung im Gazastreifen aufrechtzuerhalten, sagt Pelham, der lange Zeit zur informellen Tunnelökonomie im Gazastreifen forschte. Dass diese Ökonomie mit der Zerstörung der Tunnel nicht mehr existiert, hat der Hamas die Nabelschnur gekappt. "Gaza kann derzeit nicht funktionieren, es gibt keinen Handel. Nur durch ein neues Abkommen, vielleicht als Teil eines Waffenstillstands, kann Gaza wieder existenzfähig werden."