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Gleichheit frisst ihre Kinder

Von Eva Stanzl

Wissen

Nur Kriege schaffen eine ausgeglichene Vermögensverteilung, sagt Historiker Scheidel. Aber nur für eine Generation.


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Walter Scheidel hat ein Buch geschrieben, das an Pessimismus kaum zu übertreffen ist. Bildung, Umverteilung und Sozialpolitik reichen demnach nicht aus, um eine größere Einkommensgleichheit der Bevölkerung zu erzielen, schreibt er in seinem in den USA erschienenen Bestseller "The Great Leveler" ("Der große Nivellierer"). Über Jahrtausende hinweg waren es vor allem Kriege oder Seuchen, die auf katastrophale Weise zu mehr Gleichheit geführt haben, erklärt der in Wien geborene Historiker, der Professor für Geschichte an der renommierten Universität Stanford in Kalifornien ist.

"Wiener Zeitung": Ungleichheit ist durch den Geiz der Mächtigen verursacht, Geld ist eine Droge. Man will immer mehr, betrügt dafür den Staat um Steuern, lobbyiert und vernichtet die Umwelt - und damit sogar die Zukunft der eigenen Kinder. Unterliegt ökonomische Ungleichheit diesem Nenner?

Walter Scheidel: Gier trägt zur Ungleichheit bei, sie ist allerdings systemimmanent. Es kommt nicht so sehr auf den Einzelnen an, sondern die Struktur des Systems begünstigt Ungleichheit. Das ist ein Nebenprodukt des Kapitalismus, jedoch nicht einzig und allein auf ihn zurückzuführen. Das Phänomen der Anhäufung durch Einzelne und der Weitergabe an die nächste Generation gab es schon in vorindustriellen Zeiten. Der Gedanke dahinter könnte sein: Vielleicht schädige ich künftige Generationen, Hauptsache, meine Kinder bekommen meine Ressourcen.

Ist Ungleichheit nur systembedingt?

Ungleichheit ist auf jeden Fall seit 10.000 Jahren systemimmanent. Damit das nicht der Fall wäre, müsste eine ganze Generation Jäger und Sammler spielen und sich in eine Zeit zurückversetzen, in der es nichts gab, das man anhäufen und weitergeben konnte. Da das nicht reproduzierbar ist, müsste ein System erlauben, in größerer ökonomischer Gleichheit nach dem jetzigen Standard zu leben. Die Kommunisten waren nicht besonders erfolgreich darin.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Diese Ziele der Französischen Revolution sind zum gesellschaftlichen Wert geworden. Zählen sie für Sie gar nichts?

Nach den Maßstäben der Zeit hat die Französische Revolution einen großen Unterschied gemacht. Es gab Enteignungen, Landreformen und durch die Napoleonischen Kriege eine größere Nachfrage an Arbeitskräften, die die Löhne in die Höhe trieb. Auch im Bewusstsein der Leute hat sie viel bewirkt und eine intellektuelle Infrastruktur für die Folgegenerationen geschaffen. Das Problem ist nur, dass sie eigentlich gescheitert ist, denn die Monarchie wurde restauriert und 100 Jahre später war die Gesellschaft in Frankreich noch ungleicher als vor der Revolution. Im rein materiellen Sinn hat sich nichts umgekehrt, denn es gab Kräfte, die stärker waren als das Bewusstsein, dass eine Veränderung möglich ist.

Wie gehen wir mit diesem Bewusstsein heute um?

Das hängt davon ab, welche Länder Sie betrachten. In Europa ist uns das Ziel einer ausgeglicheneren Verteilung sehr bewusst und verankert seit der Nachkriegszeit. Heute gibt es hierzulande die Erwartung, dass extreme Ungleichheit nicht in Ordnung ist und dass es eine Kernaufgabe der Politik ist, sicherzustellen, dass es keine extrem ungleiche Verteilung gibt. In Nordamerika hat sich die Disparität allerdings seit den 1950er Jahren verdoppelt. Zustände der relativen Ausgeglichenheit drehen sich also wieder um. Auch in Europa funktioniert es heute weniger gut als noch vor 30 oder 40 Jahren.

Warum tun wir uns so schwer?

Gleichheit herzustellen ist kostspielig. Europäische Staaten müssen im Durchschnitt die Hälfte des Bruttosozialprodukts an Steuern einnehmen, um sie so ausgeben zu können, dass die Netto-Einkommen sich spürbar annähern. Es gibt europäische Staaten, wo die Brutto-Einkommensunterschiede ähnlich groß sind wie in den USA, aber hierzulande verlangt der Staat mehr von den Reichen, damit er den Ärmeren über die Sozialleistungen mehr Mittel zuweisen kann. Wenn sich aber der Druck ändert, etwa durch den globalen Markt oder die Alterung der Bevölkerung, werden die Anforderungen noch höher. Irgendwann kann der Staat nicht mehr gegensteuern.

Sie vertreten die Ansicht, dass nur Kriege oder Seuchen Gleichheit herstellen können. Wie das?

Historisch gesehen war es bisher immer so. Kriege hatten die Auswirkung, eine größere ökonomische Ausgeglichenheit zwischen den Menschen herzustellen. Freilich würde niemand einen Weltkrieg wiederholen wollen, aber es gibt keine Strategie, die ähnlich effektiv gegen Ungleichheit antritt.

Im Tod sind alle gleich. Ist das nicht eine Binsenweisheit?

Nicht, wenn man die Kriegswirtschaft als ökonomisch-systemischen Nivellierer betrachtet. Allein im Zweiten Weltkrieg trafen viele Faktoren zusammen: Kapital verlor stark an Wert und sowohl durch die Unterbrechung des Welthandels als auch durch staatliche Interventionen profitierten Anleger weniger von ihren Investments. Mancherorts existierten Steuersätze von 90 Prozent auf Höchsteinkommen. Preise, Löhne, Dividenden und Mieten waren reguliert, um sicherzustellen, dass kein Geld vom Kriegsprojekt abgesaugt werden konnte.

In vielen Ländern gab es dann nach dem Krieg eine enorme Inflation, aber auch politische Veränderungen. Das Wahlrecht wurde vielerorts ausgedehnt, die Gewerkschaften bekamen extremen Zulauf. Unter dem Strich ergab all dies, dass die Reichen in allen westlichen Ländern weniger reich waren und die Ärmeren merkwürdigerweise weniger arm. Sogar die britische Klassengesellschaft verbesserte sich, sie war vor dem Ersten Weltkrieg die extremste, die wir kennen: Die reichsten ein Prozent hatten 72 Prozent des Volksvermögens. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es weniger extrem.

Wie lange dauert dieser Effekt der "Kriegsgleichheit"?

Er hält etwa eine Generation an. In den 1980er Jahren drehte es sich um, zuerst in den englischsprachigen Ländern durch Liberalisierung und Steuersenkung in der Reagan/Thatcher-Ära, dann allmählich auch in anderen Ländern.

Macht Geld schon nach einer Generation süchtig?

Die Sucht ist vielleicht immer da, aber nach Kriegen ist sie nicht salonfähig. Umfragen zufolge haben die Menschen in Jahrzehnten nach Kriegen egalitärere Vorstellungen, geprägt durch gemeinsame Kriegserfahrungen der Rationierung, Bombardierung und Evakuierung. 30 oder 40 Jahre später ist es wieder akzeptabel, reich zu sein, dieses Ziel zu verfolgen und Parteien zu wählen, die die Wohlhabenden nicht schröpfen.

Demokratie ist die wunderbare Idee, dass Menschen sich selbst regieren sollten. Um ein Demokrat zu sein, muss man aber über die Schwachen nachdenken, also sich in Düsseldorf den Kopf zerbrechen, was in Lampedusa zu tun ist. Überfordert das die meisten Menschen?

In einigen Ländern offenbar ja, denn das Wahlverhalten hin zu Rechtsparteien entspricht ja nicht einmal den eigenen Interessen. Offenbar haben demokratische Systeme Schwierigkeiten, dem Willen des Volkes Geltung zu verschaffen. Demokratie hat allerdings keinen vorhersehbaren Einfluss: Es gibt solche, die Ungleichheit reduzieren, und andere, die das nicht tun. Allerdings wären wir in einer Diktatur nicht besser aufgehoben.

Wie könnte ein "Nivellierer" aussehen, der kein Kriegsgewand trägt?

Wenn man sich die Zukunft ansieht, überwiegen negative Kräfte. Software wird Jobs wegrationalisieren und das höhlt die Mittelklasse aus. Die Alterung hat Auswirkungen auf den Sozialstaat und mehr Zuwanderer werfen die Frage auf, wie mangelnde Integration auf die Ungleichheit wirkt. Und in der ferneren Zukunft steht die Veränderung des Menschen durch Genetik, Implantate und Vernetzung - das ist dann noch eine ganz andere Form der Ungleichheit.

Steuern wir auf eine totale Chancen-Ungleichheit zu?

Es gab nie totale Chancengleichheit, weil ja immer manche Leute ihre Chancen besser in der Lage sind zu nutzen als andere. Nicht einmal ökonomische Gleichheit kann erzielt werden, denn dazu müsste man alle Vermögenden enteignen und das Geld umverteilen. Laut Berechnungen hätten aber nur zehn Generationen später nicht mehr alle das Gleiche, weil die Menschen gesund oder krank, klug oder dumm, fleißig oder faul, motiviert oder desinteressiert sind. Nur wenn man periodisch alle eineinhalb Generationen alles gleichschaltet, würde es funktionieren. Aber dann hätten wir eine sehr merkwürdige Gesellschaft ohne Anreize, in der niemand mehr arbeitet als notwendig.

Walter Scheidel

geboren 1966 in Wien, studierte Geschichte und Numismatik an der Uni Wien. Der Professor für Geschichte an der US-Universität Stanford ist derzeit auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des IST Austria in Wien. Heute um 17 Uhr referiert er am IST Austria in Klosterneuburg über sein Buch "The Great Leveler: Violence and Inequality from the Stone Age till the 21st Century". ÖAW/Hinterramskogler