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Globale Krise ohne globale Solidarität?

Von Werner Wintersteiner

Gastkommentare

Der nationalstaatliche Egoismus fällt auch auf uns zurück. Wir sind eine "irdische Schicksalsgemeinschaft".


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Die Corona-Krise führt uns den Zustand der Welt vor Augen. Das Virus verbreitet sich global, und seine Bekämpfung würde globale Anstrengungen auf vielen Ebenen erfordern. Doch die Staaten reagieren weitgehend national. Die (nationalistische) Ideologie siegt über den Hausverstand. Zunächst haben wir - typisch nationaler Tunnelblick - das Virus als rein chinesische Angelegenheit gesehen, als Ergebnis der fragwürdigen Essgewohnheiten der Chinesen und der schlechten sanitären Bedingungen auf ihren Wildmärkten. US-Präsident Donald Trump spricht sogar gezielt vom "Chinese Virus", nachdem er es ursprünglich als "foreign virus" tituliert hatte.

Und die konkreten Maßnahmen? Reflexartige Grenzschließungen und Abschottung. Anfangs in Deutschland sogar Ausfuhrverbund für medizinische Ausrüstung. Und - trotz aller Warnungen - Weitermachen in den Tiroler Skigebieten. "Man hat das Virus sehenden Auges aus Tirol in die Welt getragen. Es wäre überfällig, sich das einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen", spricht ein Innsbrucker Hotelier unsere internationale Verantwortung an. Doch der nationalstaatliche Egoismus fällt auch auf uns zurück: Siehe die häusliche Pflege durch ausländische Kräfte, die seit den Grenzschließungen in die Krise geraten ist.

Die mangelnde auch nur europäische Solidarität zeigt sich besonders krass am Beispiel Italiens. China, Russland und Kuba haben medizinisches Personal und Ausrüstung geschickt. Die Staaten der Europäischen Union, obwohl erst später als Italien betroffen, waren die längste Zeit mit sich selbst beschäftigt. Und die reichen Länder wie Deutschland und Österreich weigern sich, den Mitgliedern, die es härter trifft, mittels Euro-Bonds beizustehen.

Nicht zuletzt: Trotz permanenter Warnungen verschließen wir unsere Augen vor der katastrophalen Situation der Menschen in den Flüchtlingslagern in Griechenland, die vom Ausbruch der Pandemie noch härter betroffen wären. Jeder ist sich selbst der Nächste, und die Ärmsten bleiben auf der Strecke. Wie heißt es hingegen so schön im Artikel 2 des EU-Vertrages: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte . . ."

Nicht weniger, sondern eine andere Globalisierung

Fazit: Globale Gefährdungen bewirken eben nicht automatisch globale Solidarität. Wir haben globale Probleme erzeugt, aber keine Mechanismen für globale Lösungen zustande gebracht. Wenn diese fehlen, darf man sich nicht wundern, dass sich alle auf sich selbst zurückgeworfen fühlen und nach der Maxime "Rette sich, wer kann" reagieren - und damit erst recht zur Entsolidarisierung beitragen. Beispiel Weltgesundheitsorganisation WHO: Sie hat nur sehr wenige Kompetenzen, ist finanziell zu 80 Prozent von privaten Donors, darunter auch Pharmakonzernen, abhängig, und ihre bisherige Rolle in der Corona-Krise ist umstritten.

Im Gegensatz dazu erleben wir sehr viel Hilfsbereitschaft und Solidarität in der Bevölkerung. Es gibt auch eine beeindruckende weltweite medizinisch-wissenschaftliche Kooperation im Kampf gegen das Virus. Allerdings verhindern die heutigen politischen Strukturen und der "methodische Nationalismus" derzeit noch, dass diese Solidaritätsbereitschaft auch entsprechend globalisierte Formen annehmen kann. Wir brauchen daher nicht weniger, sondern eine andere Globalisierung - eine Globalisierung der sozialen Netze und eine Globalisierung der Demokratie. Und ganz konkret eine Stärkung der WHO. Nur wenn starke gesamteuropäische und darüber hinaus auch globale Strukturen bestehen, kann der "Rette sich, wer kann"-Reflex außer Kraft gesetzt werden.

Stärke des Rechtsstatt Recht des Stärkeren

Das Virus hat uns unerbittlich eine Botschaft überbracht, die wir von Fridays for Future nicht annehmen wollten: nämlich, dass wir nolens volens eine bedrohte "irdische Schicksalsgemeinschaft" in unserem "Heimatland Erde" (Zitat Edgar Morin) bilden. Und dass wir einen radikalen Wandel unserer Lebensgewohnheiten, unserer Wirtschaftsweise wie auch unserer politischen Organisation brauchen, um diese Bedrohungen abzuwenden. Gerade wir in den reichen Ländern müssen beginnen, nachhaltig und fair zu leben.

Dazu müssen wir auch, über die Nationalstaaten hinaus, funktionierende transnationale und globale Strukturen aufbauen, die den entfesselten Kapitalismus zähmen können und das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetzen. Das nennt sich sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft. Kurz: Wir müssen unser Verhältnis zur Natur wie zu unseren Mitmenschen auf eine neue Grundlage stellen. Wir müssen lernen, aus der EU eine wahre "Europäische Union" zu machen, und wir müssen lernen, uns als verantwortungsvolle Erdenbürgerinnen und Erdenbürger zu verhalten.

Wenn die Corona-Krise dazu dient, dass wir diesmal auf die Botschaft hören, dass wir die "Schrift an der Wand" lesen können, dann haben wir wohl das Beste daraus gemacht, was man aus so einer Katastrophe machen kann.