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Globalisierung des Unanständigen

Von Robert Sedlaczek

Reflexionen

Es gibt eine Gier nach unbefleckten Wörtern aus der Fremde, während bodenständige Ausdrücke durch oftmalige Verwendung genierlich klingen. Über regionale Differenzen von Tabuwörtern und terminologische Transfers in der Fäkalsprache.


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Es gibt einen erstaunlich genierlichen Nationalismus in der Fäkalsprache: Während Österreicher etwa "pissen" oder "pinkeln" für relativ anständig halten, klingen das einheimische "brunzen" oder "schiffen" in ihren Ohren ziemlich unanständig . . .
© Cartoon: Wolfgang Ammer

Die Veranstaltung fand im ehrwürdigen Wiener Rathaus statt. Wieder vergaben die Spitzen der österreichischen Buchbranche in festlichem Rahmen die "Buchlieblinge" - Preise für jene Bücher, die bei einer Publikumswahl die meisten Stimmen erhalten hatten. In der Kategorie Belletristik gewann die englische Autorin E. L. James mit ihrem unerhört erfolgreichen Softporno-Bestseller "Shades of Grey. Geheimes Verlangen." Der Verleger der deutschen Ausgabe war eigens nach Wien gereist, um die Laudatio von Dolores Schmidinger zu hören und den Preis entgegenzunehmen. Die österreichische Kabarettistin verwendete in ihrer launigen Ansprache einige Male das Wort Zumpferl - österreichisch für Penis, oft für den eines Knaben.

Sauber oder obszön?

Als der Applaus für die Laudatio verhallt war, betrat der deutsche Verleger die Bühne. Er bedankte sich nicht nur für den Preis, sondern auch dafür, dass er nun ein neues Wort kennen gelernt habe, das ihn erheitere und das er von nun an verwenden werde: Zupferl. Jetzt war auch das Wiener Publikum erheitert. Das fehlende m ließ Anklänge an das Wort zupfen wach werden, was im Übrigen etymologisch nicht einmal so falsch ist.

Diese Anekdote ist in mehrfacher Hinsicht für unser Thema interessant. Sie zeigt, dass bei tabuisierten Ausdrücken aus der Sexualsprache das Fremde deshalb interessant klingt, weil es so unbelastet und daher relativ "sauber" ist, hingegen haben die einheimischen und vertrauten Ausdrücke einen obszönen Klang.

Das wird wohl auch der Grund sein, warum Wörter für koitieren vom Norden in den Süden und vom Süden in den Norden wandern. Das aus dem Raum Köln stammende Wort poppen ist vermutlich heute auch ganz im Süden unter Jugendlichen ein häufig gebrauchtes Verb für koitieren. Es wurde durch die Werbekampagne von Pringels "Einmal gepoppt, nie mehr gestoppt!" auch in die entferntesten Winkel des deutschen Sprachraums getragen. Nur bumsen dürfte unter Jugendlichen noch populärer sein.

Umgekehrt breitet sich das Wort schnackseln vom Süden Österreichs Richtung Norden aus. Das in Österreich entstandene Wort pudern wird schon in Bayern als witzig empfunden, weil es dort nicht in Gebrauch ist - worauf der bayerische Kabarettist Michael Mittermeier publikumswirksam hingewiesen hat. Mittermeier trägt auf diese Weise dazu bei, dass es sich weiter ausbreitet. Es hat übrigens nichts mit Streupulver zu tun, sondern leitet sich vom Buttermachen ab: mit dem Stössel Milch zu Butter rühren.

Genauso wenig wird es ein Zufall sein, dass das Wort Schniedelwutz, verbreitet von Otto Waalkes, Hella von Sinnen und einigen anderen, heutzutage im gesamten deutschen Sprachraum verstanden und zumindest hin und wieder verwendet wird. Schniedel gehört wohl zu schneiden, mit einem ähnlichen Bedeutungsmotiv wie Schniepel, also: der Zipfel. Der zweite Bestandteil gehört wohl zu Wutz (= kleiner Kerl, kleines Ding).

Als der deutsche Comedian Bülent Ceylan in der ORF-Sendung "Willkommen Österreich", also bei Grissemann & Stermann, gastierte, blödelte er mit dem Wort Futlapperl herum: "Es klingt bei euch so schön, in Deutschland kannst du das nicht sagen."

Na, ja. Als am neuen Terminal "Skylink" des Flughafens Wien-Schwechat die Passagiere auf einer Tafel mit dem österreichischen Wortschatz begrüßt werden sollten - aus dem in vielerlei Hinsicht problematischen "Wörterbuch Österreichisch-Deutsch", erschienen vor einem Jahrzehnt im Residenz-Verlag -, wurde das Wort "Futlapperl" heftig kritisiert. Ein Flughafensprecher erklärte die Entfernung des Wortes nach einigen geharnischten Pressekommentaren so: Es müsse dafür Sorge getragen werden, dass den Passagieren "keine potenziell fremdenfeindlichen, diskriminierenden, frauenfeindlichen oder die religiösen Gefühle verletzenden Inhalte aufgezwungen werden".

Was sich geziemt

Die richtige Begründung wäre eine andere gewesen: Dieses Wort ist nur dialektal in Gebrauch; außerdem geziemt es sich nicht, die ankommenden Fluggäste mit Hinweis auf einen Teil der weiblichen Geschlechtsorgane zu konfrontieren und so zu tun, wie wenn es sich um ein Wort der österreichischen Standardsprache, also unserer Hochsprache handelt.

Die Gier nach neuen, unbefleckten Wörtern aus der Fremde ist unermesslich. Denn die bodenständigen Ausdrücke wurden so oft in einem unanständigen Kontext verwendet, dass sie genierlich klingen. Das gilt auch für die Fäkalsprache. Österreicher halten die Wörter pissen und pinkeln für relativ anständig, während die einheimischen Wörter brunzen und seichen in ihren Ohren unanständig klingen.

Als ich bei der Arbeit an dem Buch "Das österreichische Deutsch" meiner im Rheinland lebenden Lektorin erzählte, dass die Stadt Wien in Parkanlagen alte Autoreifen mit der Aufschrift ‚Pissringe‘ als Hundeklo aufstellen ließ, war sie entsetzt. "Wie können es Stadtväter zulassen, dass so ein unanständiges Wort im öffentlichen Raum verwendet wird?" - "Was hätten sie sonst schreiben sollen? ‚Brunzringe‘?" - "Ja! Das wäre lustig gewesen!" Das Unbekannte, das Fremde, das Neue klingt nicht nur anständig, es amüsiert auch.

Adelung gegen Grimm

Sogenannte unanständige Wörter reisen oft von einer Sprache in die andere . . .
© Cartoon: Wolfgang Ammer

Vor rund 250 Jahren hat sich unter den renommiertesten Sprachforschern und Wörterbuchmachern in deutschen Landen ein Streit entzündet, wie mit dem Wort brunzen umzugehen sei. Johann Christoph Adelung schrieb 1773 im ersten Band seines "Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart", dass brunzen "anfänglich vermuthlich ein edler und anständiger Ausdruck" war. "Allein er ist mit allen seinen Ableitungen und Zusammensetzungen, nunmehr schon lange dem niedrigsten Volke Preis gegeben worden, daher ich mich hier nicht länger dabey aufhalten (. . .) will."

Mit diesem Aufruf zur lexikografischen Enthaltsamkeit war Adelung bei den Brüdern Grimm an die Richtigen geraten. Sie zeichneten nicht nur Märchen auf, sondern arbeiteten an einem gigantischen "Deutschen Wörterbuch", das bis zum heutigen Tag - mit teilweisen Überarbeitungen - als wichtiges Nachschlagewerk gilt. Und sie kritisierten Adelung auf das Schärfste; ". . . als wenn es nicht die Pflicht der Sprachforschung wäre, solchen Wörtern - die herabgekommen sind, nicht weil das Volk sie in ihrer natürlichen Geltung festhielt, sondern weil die vornehme Welt sie durch fremde, nichts sagende verdrängte und zuletzt vergaß - gleichsam die Ehre zu retten."

Sexuell oder anal?

Es ist ja ein bekanntes Phänomen, dass das häufigste Tabuwort im angloamerikanischen Raum das Wort fuck ist, während im Deutschen die Scheiße und der Arsch eine Spitzenposition einnehmen. Mit anderen Worten und nach der Terminologie Sigmund Freuds: Die Angloamerikaner sind sexuell fixiert, die Deutschsprachigen sind anal fixiert.

Wir konnten und mussten - aus Gründen der Vollständigkeit - in unserem "Unanständigen Lexikon" seitenweise Wörter und Redewendungen dieser Art anführen: auch mit den Varianten Scheißdreck statt Scheiße, nicht zu vergessen den wienerischen Ausdruck für Darmblähung, Schas (außerhalb Wiens meist Schoas), und das Götzzitat mit all seinen verhüllenden Varianten wie Du kannst mir den Buckel runterrutschen! oder Du kannst mich buckelfünferln - gemeint ist: mit den fünf Fingern der Hand den Rücken hinunterfahren - oder Du kannst mich im Mondschein besuchen.

Doch auch auf diesem Gebiet ist Bewegung in die Sprache gekommen. Die Jugendlichen, vor allem im städtischen Bereich, schimpfen immer öfter mit Fuck! statt mit Scheiße! oder So ein Schas! Und wenn jemand verschwinden soll, sagen sie nicht mehr Geh scheißen!, sondern Fuck off! Es wird ihnen ja in den Synchronisationen der Fernseh- und Kinofilme auch so vorexerziert.

Dass die Amerikaner nach deutschem Vorbild stärker mit dem Fäkalen schimpfen, ist hingegen nicht zu erwarten. Der Einfluss des Englischen auf das Deutsche ist ungleich stärker als umgekehrt.

Und wir dürfen auch eines nicht übersehen: Die Nazi-Zeit wirkt noch immer nach. Wenn ein Österreicher einen Oscar bekommt, dann für die Rolle eines Naziverbrechers. Das Deutsche wird noch lange in den USA diskreditiert sein - obwohl die deutsche Fußballnationalmannschaft gerade positive Imagewerbung betrieben hat.

Eines haben die Englisch- und die Deutschsprachigen aber doch gemeinsam: Im Schimpfen ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Der US-amerikanische Psychologe, Linguist und Bestsellerautor Steven Pinker weist in seinem hervorragenden Buch "Der Stoff, aus dem das Denken ist" darauf hin, dass sich beim Fluchen ein Übergang vom Religiösen zum Sexuellen oder Fäkalen vollzieht. Im Englischen wird aus Who (in) the hell are you? die Formel Who the fuck are you? Aus For God’s sake! wird For fuck’s sake! und For shit’s sake! Genauso ist Fuck you! keine Kurzform von I (will) fuck you!, sondern ein Ersatz für Damn you! und God damn you!

Fäkal statt religiös

Im Deutschen wird aus Es ist deine verdammte Pflicht! die Wendung Es ist deine scheiß Pflicht!, und aus Heilige Maria! wird Heilige Scheiße! oder Heiliger Scheißdreck! Die religiösen Kraftausdrücke haben im Verlauf der Sprachgeschichte "ihren Stachel verloren", schreibt Pinker, sie werden sukzessive durch fäkale oder sexuelle ersetzt.

Dass der deutsche Sprachraum nicht einheitlich ist, wurde amtlich bestätigt, als sich die österreichische Regierung beim Eintritt in die EU genau 23 Ausdrücke aus dem Lebensmittelbereich schützen ließ: Erdäpfel, Beiried, Fisolen, Marillen, Lungenbraten etc. Spezifisch österreichisch sind auch einige Ausdrücke der Sexual- und Fäkalsprache. Während die Grundsatzformel lautet: Im Deutschen wird nicht mit Sexual-, sondern mit Fäkalausdrücken geschimpft, gibt es Ausnahmen: Sack, Seckle und Seggl im Alemannischen sowie Beutel im Österreichisch-Bairischen. Wenn also ein Österreicher mit Du Saubeutel! oder mit Du Hundsbeutel! schimpft, so bedient er sich eines Austriazismus. Ganz im Norden des deutschen Sprachraums zeigt sich wieder einmal, dass der Übergang ins Englische ein fließender ist. Im Plattdeutschen heißt ein Ausdruck für das weibliche Geschlechtsorgan Kunt - die Verwandtschaft mit englisch cunt ist unübersehbar. Ob es hingegen einen Zusammenhang zwischen plattdeutsch Puus oder Püüs und englisch pussy gibt? Darüber streiten sich die Sprachwissenschafter.

Wer hat die "Eier" wo?

In letzter Zeit dringen auch Sprachgewohnheiten aus dem romanischen Raum ins Deutsche ein. Das spanische Wort cojones für Hoden - diese stehen symbolisch für Stärke und Kraft - ist Vorbild für eine Reihe von Formulierungen im Deutschen.

Ein deutscher Fußballer, der Tormann Oliver Kahn, wurde vor langer Zeit - heute ist er ja Fernsehkommentator - von einem Journalisten kritisiert, weil seine Mannschaft nicht ausreichend gekämpft hatte. Oliver Kahn stimmte ihm zu, formulierte es aber anders: "Eier! Wir brauchen Eier! Sie wissen was das heißt!?"

Sebastian Vettel, der deutsche Formel 1-Fahrer in einem österreichischen Auto, meinte voriges Jahr, als er noch Seriensieger war: "Wenn die anderen nach Hause gehen und sich die Eier in den Pool hängen, dann sind wir noch da und tüfteln weiter am Auto."

Hier war die symbolische Bedeutung eine andere. Er meinte: Während wir nach dem Rennen noch Manöverkritik betreiben, lassen es sich die anderen schon gutgehen.

Heuer fährt er allerdings hinterher. Damit gerät er in den Verdacht, dass nun er es ist, der die Eier zu früh in den Pool hängt.

© Foto: Wiener Zeitung

Das unanständige Lexikon. Tabuwörter der deutschen Sprache und ihre Herkunft" von "WZ"-Sprachglossisten Robert Sedlaczek (Foto) und Christoph Winder ist im Innsbrucker Haymon-Verlag erschienen und kostet 17,90 Euro. Es dokumentiert Tabuwörter aus dem gesamten deutschen Sprachraum, vom nördlichsten Platt bis zum südlichsten Bairischen.

Die Wienerischen Ausdrücke stehen im Mittelpunkt des Theaterprogramms "Herzhaft und unanständig!", zu sehen am Dienstag, 5. August, 19.30 Uhr, im Theater am Spittelberg, Wien 7, Spittelberggasse 10. Diese "literarisch-musikalische Reise in die Tiefen der Wiener Seele" wird präsentiert von den Schauspielern Gabriele Schuchter, Stephan Paryla, Alfred Pfeifer und Christian Spatzek sowie Robert Sedlaczek. Musikalische Begleitung: Markus Vorzellner.

Tabuwörter im Kabarett
Tabuwörter sind starke Wörter, im Kabarett wecken sie das Publikum auf und lösen Lachsalven aus. "Der Schas ist der beste Komiker!" – Dieser Spruch zirkuliert unter Schauspielern. Leider ließ sich nicht eruieren, wer ihn erfunden hat.
- ",Ficken‘ ist ein sehr klares Wort mit einer schön schmutzigen Konnotation. ‚Ficken‘ klingt viel schöner als dieses süße ‚vögeln‘. Bei ‚vögeln‘ denke ich an zwitscher, zwitscher, tirili, tirili." (Anke Engelke, deutsche Komikerin, Schauspielerin und Entertainerin)
Das Gefühl gibt ihr recht: Mit dem Verb vögeln wurde ursprünglich die Tätigkeit des Vogelfangs bezeichnet, später das Begatten der Vögel, erst dann erfolgte die Übertragung auf den Menschen.
- "Die ganz kleinen Hunde (. . .) heißen Futschlecker. Das ist ein passender Name, der kommt aus dem Englischen (. . .) weil sie so klein sind, dass sie nur die Füße, the foot . . . Nicht das, was Sie jetzt denken!" (Andreas Vitásek: Der Doppelgänger)
Nicht alles kommt aus dem Englischen. Aber falsche Etymologien, die gleichzeitig Tabubrüche sind, kommen beim Publikum gut an.
- "Selbst der Copilot ist high, / drosselt plötzlich die Motoren; / Dolly Buster fliegt vorbei, / man erkennt sie an den Ohren." (Otto Waalkes: Parodie auf Reinhard Meys "Über den Wolken")
Paarige Körperteile, vor allem Ohren und Augen, werden verhüllend für die weiblichen Brüste verstanden: "Schau, was die für Augen hat!"
- "Was is a Tschurifetzen? / Also ohne ihr Gefühl zu verletzen, / des is a Tüachl, bitte sehr, / was ma nimmt nach dem Geschlechtsverkehr." (Georg Danzer: "Die Ballade vom versteckten Tschurifetzen")
Das Maskulinum Tschuri geht auf romanes djuuri mit der ursprünglichen Bedeutung Suppe zurück.
- "Solange in diesem Lande noch gegeigt und geblasen wird, solange kann uns nichts geschehen." (Helmut Qualtinger über Österreich als Kulturnation)
Man darf nicht nur an die Wiener Philharmoniker denken. Sowohl geigen als auch blasen sind in diesem Fall doppeldeutig...