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Globalisierung gestalten

Von Kurt Bayer

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Es gibt mehr Alternativen als bloß Protektionismus oder Globalisierung.


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Die Diskussion, ob Globalisierung oder neue Technologien wie die fortschreitende Automatisierung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen für Jobverluste, stagnierende Arbeitseinkommen und längere Arbeitslosigkeit verantwortlich sind, bleibt unlösbar. Am plausibelsten ist, dass je nach Land, Sektor und Ausbildung beide Faktoren in unterschiedlichem Ausmaß gemeinsam wirken.

Für die Betroffenen, die ihre Jobs verlieren, deren Einkommen stagnieren, die keine neuen Jobs finden, ist es unerheblich, wie diese Diskussion unter Ökonomen ausgeht. Fakt ist, dass die deutlich verschlechterte Arbeitsmarktsituation in der öffentlichen Diskussion primär "der Globalisierung" zugeschrieben wird, wie die Wahl Donald Trumps oder der Ausgang des Brexit-Referendums zeigen - und dass sie die tatsächlich und potenziell Betroffenen den rechten Populisten in die Arme treibt. Auch wenn bei den jüngsten Wahlen in Österreich, den Niederlanden und Frankreich die Rechtspopulisten keine Mehrheiten erlangen konnten, bleiben sie in all diesen und vielen anderen Ländern Europas eine starke Minderheit. Das Vertrauen der Bürger in die herkömmlichen Parteien ist erschüttert: Ihnen wird keine Problemlösungsfähigkeit mehr zugetraut - auch wenn sie zunehmend Positionen der Rechtspopulisten übernehmen.

Nun hat die EU-Kommission im Mai das Reflexionspapier "Die Globalisierung meistern" vorgelegt, wie sie im Weißbuch über die Zukunft Europas im März angekündigt hatte. Der Inhalt ist für die Betroffenen weitestgehend enttäuschend. Zwar wird eingestanden (auf einer von 24 Seiten), dass Globalisierung auch Herausforderungen mit sich bringt, doch geht es der EU-Kommission primär darum, die Vorteile herauszustellen und die Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, die weitere Zunahme der Globalisierung "zu meistern". Es geht dabei vor allem darum, "die Wettbewerbsfähigkeit" europäischer Unternehmen zu stärken. Das soll offenbar dann auch den Arbeitenden zugutekommen, wenn sie die geeignete Ausbildung haben.

Die im Paper genannten "Herausforderungen" ergeben sich dadurch, dass Unternehmen Arbeitskostenunterschiede und niedrigere Sozial- und Umweltstandards zu Verlagerungen nutzen, aber auch Gewinne in Niedrigsteuerländer verlagern; Migration führe dort zu Problemen, wo der Ausbau der lokalen Infrastruktur mit den Migrationsströmen nicht mithalte; die Bürger meinten, die Politik habe die Kontrolle über die Globalisierung verloren, daher kämen deren Vorteile nicht allen zugute. So weit die EU-Kommission, so oberflächlich.

Hauptproblem der Analyse dieses Papiers ist es, dass es nur zwei Pole kennt: Globalisierung - gut, Protektionismus - schlecht. Dazwischen gibt es nichts. Das Zitieren der verheerenden Auswirkungen der protektionistischen Zwischenkriegszeit ist fein und stimmig, hat aber mit der aktuellen Lage nichts zu tun. Es geht nicht darum, sich abzuschotten und zu isolieren, sondern vielmehr darum, Globalisierung nicht als Allheilmittel aller ökonomischen und sozialen Probleme fast heiligzusprechen. Ihre Auswirkungen sind neu zu bewerten, in welchen Bereichen sie Vorteile bringt und wo nicht, wie viel Globalisierung kulturell und sozial vertretbar ist. Auf Basis dieser Analyse müssen dann die weiteren Globalisierungsprozesse so gesteuert werden, dass sie zu "the greatest happiness of the greatest number of people" beitragen, wie es Jeremy Bentham formulierte.

Ungenügender Gestaltungswille

Bisher beschränkt sich EU-Regulierung der Globalisierung auf Anti-Dumping-Verfahren, etwa gegen Stahlimporte und (positiv) auf die Entsenderichtlinie. Letztere ist allerdings kaum wirksam. Nur mit Missbrauchsregulierung zu agieren, reicht bei weitem nicht aus. Es ist Zeit, die grundlegenden vier Freiheiten des EU-Binnenmarkts (Arbeitnehmer, Kapital, Waren und Dienstleistungen) auch innerhalb der EU in ihrer Anwendung zu hinterfragen, da diese an sich sinnvollen Prinzipien grundsätzlich davon ausgehen, dass man es mit "gleichen" Ländern mit zumindest gleichwertigen Standards und Löhnen zu tun habe - die Realität ist vollkommen anders. So liegen zwischen Finnland und Rumänien Welten.

Globalisierung zu gestalten, bedeutet auf EU-Ebene, sich stärker und mit einer Stimme in die internationalen Institutionen einzubringen (dies passiert derzeit nur bei der Welthandelsorganisation), dort aber nicht ein falsch verstandenes Freihandelsdogma zu predigen, sondern Globalisierung dort zu bremsen, wo die sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen destruktiv sind: Wer globalisierte Wertschöpfungsketten als das Nonplusultra moderner Wirtschaftsentwicklung propagiert (wie des die EU-Kommission tut), ignoriert die Umweltfolgen ungebremster und falsch bewerteter Handelsströme ebenso sowie den Lohndruck auf Hochlohn- durch Niedriglohnländer. Wer einheitliche Standards zum Idol erhebt, ignoriert die kulturellen Identitätsunterschiede vieler Regionen. Wer den Aufkauf europäischer Schlüsseltechnologie durch staatliche Unternehmen eines Drittlandes explizit nicht untersagen lässt, gibt einem fiktiven "freien" Markt Vorrang vor heimischem Entwicklungspotenzial. Es sollte der EU-Kommission dämmern, dass ein neues Wirtschaftsmodell nötig ist, wenn wir nicht weiter den fürchterlichen Vereinfachern in die Hände spielen wollen.

Neue Gestaltungsspielräume

Sowohl die EU als auch Österreich müssen zeigen, dass sie primär die Interessen der Arbeitenden im Fokus haben. Das heißt nicht, dass unternehmerische Tätigkeit verteufelt werden soll, aber es ist sicherzustellen, dass Unternehmen das Mittel sind, das Wohlergehen der Arbeitenden zu sichern. Wohlergehen geht vor ungebremstem Gewinnstreben. Dazu wären einige Aktivitäten nötig:

Es braucht eine Bewusstseinsbildung mittels einer Kampagne zur Sicherung und Steigerung des Wohlergehens der Gesellschaft unter den neuen Rahmenbedingungen. Es muss klargestellt werden, dass die Politik im Einvernehmen mit Zivilgesellschaft und Privatsektor die Sorgen der breiten Bevölkerungsschichten, eine Verschlechterung der Lebensbedingungen fürchten (durch Globalisierung und/oder neue Techniken), ernst nimmt und etwas dagegen unternehmen will.

Gute Jobs und Lohnsteigerungen müssen die Einkommensverteilung zugunsten der Mehrheit ändern. Die Umverteilung kann nicht allein durch ein dafür ineffektiv gewordenes regressives Steuersystem erreicht werden. Die Primäreinkommen müssen signifikant steigen, das steigert auch die heimische Nachfrage.

Dafür muss es primär Investitionen in die Menschen geben: effektive Ausbildung, viel mehr lebenslanges Lernen und Umschulungen; Maßnahmen die allen eine produktive Teilnahme am Arbeitsprozess ermöglichen, sind dafür wichtiger als reine Cash-Transfers (Arbeitslosengeld und Sozialhilfe). Das jahrzehntelange Patt der heimischen Regierungsparteien um das Schulmodell der Zukunft muss aufgelöst werden, im Vordergrund müssen die Lebenschancen der Kinder stehen.

Die Frage, ob Globalisierungs- und Technologieverlierer zu kompensieren sind, ist zu bejahen. Allerdings erscheinen monetäre Kompensation wenig sinnvoll. Viel effektiver ist es, ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben durch weit stärkere Schulungs- und Anpassungsmaßnahmen, die auf regionaler Ebene organisiert sind, zu sichern.

Es ist auch nicht sinnvoll, etwa Exporteure oder Verlagerer von Firmen spezifisch für diese Kompensation zur Kasse zu bitten, da dies administrativ kaum durchführbar wäre und wahrscheinlich dem Diskriminierungsverbot der EU zuwider liefe. Stattdessen sind die Mittel durch Vermögens-, Finanztransaktions- und ökologische Steuern zu lukrieren. Auf EU-Ebene wäre der Steuerwettlauf nach unten bei den Körperschaftsteuern (konkret wieder im Vereinigten Königreich) durch Mindeststeuersätze und die Definition einer gemeinsamen Steuerbasis (mit Schließen der diversen Schlupflöcher) zu stoppen. Steuerkonkurrenz hat in einem gemeinsamen Wirtschafts- und vor allem Währungsraum keinen Platz.

Die Alterung der Gesellschaft reduziert den Druck auf das Arbeitsangebot, zugleich aber steigt der Pflege- und Versorgungsbedarf. Die bisher ungeregelten und teils ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen müssen in offizielle und sozialversicherungspflichtige sowie qualitativ adäquate Jobs übergeführt werden. Die öffentliche Hand muss die Organisation und Finanzierung übernehmen.

Um die Chancen der Automatisierung zu ergreifen und akzeptabel zu machen, müssen Sozialversicherungs- und Steuersysteme umgestaltet werden, damit die weniger erforderlichen Arbeitsvolumina, auf denen der Hauptanteil der Steuerlast zur Finanzierung notwendiger öffentlicher Ausgaben liegt, nicht zu einer Finanzierungslücke führen. Es braucht Wertschöpfungsabgabe, Finanztransaktionssteuer und Vermögenssteuern (inklusive Erbschaften). Damit können auch die (Um-)Schulungen für die neue Arbeitswelt finanziert werden.

Automatisierung benötigt neue Kommunikationsnetze sowie die Steigerung der Fähigkeit, hochwertige Prozesse und Produkte herstellen zu können. Die riesigen Investitionen in erneuerbare Energien, die öffentliche Bereitstellung von Plattformen für die "Sharing Economy", die Regulierung der neuen "Gig-Economy" (Uber, AirBNB), damit auch diese zum allgemeinen Steueraufkommen beitragen, all dies sind Aufgaben der öffentlichen Hände.

Die Fokussierung der EU auf Handels- und Investitionsverträge, die auf Machtverhältnissen der Vergangenheit ohne große Multi-Konzerne aufbaut, muss zugunsten einer Fokussierung auf den großen EU-Binnenmarkt geändert werden. Die berüchtigten Streitbeilegungsverfahren (in Ceta und TTIP) müssen von ihrer einseitigen Bevorzugung der Interessen der Multis zugunsten der Staateninteressen verändert und in ein geordnetes, dem staatlichen Gewaltmonopol unterliegendes System geändert werden.

Effizienzinteressen, die globale Standards, technische, gesundheits- und phytosanitäre Regulierungen fordern, sind kulturelle und Identitätsinteressen der lokalen Bevölkerungen vorzuziehen. Das mag zu weniger Außenhandel und weniger Effizienz führen, schützt aber regionale und nationale kulturelle Identitäten.

Nur Lippenbekenntnisse

Das Papier der EU-Kommission zur Globalisierung legt nur Lippenbekenntnisse ab. Es akzeptiert das bestehende Wirtschaftssystem und seine Verwerfungen und schlägt nur "Pflaster" zur Beruhigung vor. Hauptanliegen ist der Fokus auf die Erhaltung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Natürlich ist bessere Ausbildung, wie auch oben argumentiert, wichtig. Aber solange eine weitere Steigerung der Globalisierung als gottgegeben - und damit positiv und konstruktiv - gesehen wird und die Folgen für die betroffenen Menschen nur als kleine Übel gesehen werden, wird die Unzufriedenheit der Menschen steigen. Die im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten niedrigen Wachstumsraten des BIP, die die EU prognostiziert, können aus sich heraus die Umverteilungswünsche, die Verbesserung der Lebensumstände und die negativen Folgen für die Umwelt nicht lösen. Dazu braucht es eine andere Zielrichtung und weit stärkere Eingriffe der öffentlichen Hände, um die Globalisierung und Technisierung im Sinne der Menschen in der EU zu gestalten. Globalisierung ja - aber nur, soweit sie den Menschen dient.