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Welchen tatsächlichen Handlungsspielraum haben Politiker auf nationaler Ebene überhaupt noch - und was bedeuten Supranationalität und globale Probleme für ihr Handeln und ihr Themenmanagement? Ein Versuch.
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Wien. Kein Zweifel: Es ist alles sehr kompliziert. Fred Sinowatz wurde ausgelacht, weil er Ehrlichkeit walten ließ, wo andere Souveränität, egal ob tatsächliche oder gespielte, vorgeben mussten und vorgaben. Der heute legendäre Sager des ehemaligen SPÖ-Kanzlers trifft in einer Zeit, in der zahlreiche Probleme und Herausforderungen globaler Natur sind, noch stärker zu als je zuvor. Einzig: Zugeben wollen das Politiker noch weniger als früher. Schon gar nicht, dass viele Lösungen nur mehr jenseits der nationalen politischen Arena errungen werden können. Lösungen aber sind es, die die Wähler von der Politik - zu Recht - erwarten. Ein Dilemma für die Politiker, wenn sie sich selbst nicht obsolet machen, sprich ein Bild der eigenen Ohnmacht abgeben wollen.
Grenzen für politische Entscheidungen auf nationaler Ebene setzen vor allem die supranationalen Vereinbarungen, zu denen sich Österreich bekannt hat und die es vielfach in den Verfassungsrang gehoben hat. Konkrete Beispiele finden sich in den vergangenen Jahren einige: Da wären die diversen Kürzungsmodelle für die bedarfsorientierte Mindestsicherung, eingeführt von den Bundesländern Ober- und Niederösterreich, die schließlich auch teilweise als Vorbild für die neue bundeseinheitliche Lösung von Türkis-Blau dienten. Verfassungsrechtler gaben durch die Bank zu bedenken, dass eine Ungleichbehandlung von Staatsbürgern und Asylberechtigten mit dem europäischen Recht unvereinbar sei. Beschlossen wurden die Kürzungen dennoch - auch im Wissen, dass die Mühlen der österreichischen und europäischen Höchstgerichte langsam mahlen. Krieg, Flucht und Migration haben ebenso komplexe und globale Gründe wie der Klimawandel und seine unmittelbar drohenden, ja bereits spürbaren fatalen Folgen für den ganzen Planeten. Die großen Fragen zu lösen, heißt es auch aus der Politik, sei Aufgabe der Europäischen Union. Welche Konsequenzen ziehen die Politiker real daraus, wie verändert sich dadurch ihr Wirken im nationalen Rahmen?
Keine komplexen Antworten
Stefan Hammer ortet eine Tendenz. Der Staatsrechtler und politische Philosoph am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien sieht als Reaktion auf die Einschränkung des Lösungsspielraumes der komplexen, globalen Probleme den Versuch einer Problemverknappung - und zwar in Form einer Zuweisung der Probleme auf jene Bereiche, in denen sich der Eindruck nationaler, bestenfalls noch europäischer Verfügungsmacht noch besser aufrechterhalten lässt. Anstatt komplexe Antworten auf komplexe Fragen zu geben, ist es hinsichtlich der eigenen Erfolgsaussichten besser, nur Teilbereiche anzusprechen, wo man nationale Lösungen anbieten kann. Die globalen Ursachenzusammenhänge für Migration würden verdrängt, sagt Hammer, und würden politisch auf das Problem reduziert, wie dicht man nationale Grenzen machen kann, oder wie - oftmals vermeintliche - Pull-Effekte für Wirtschaftsmigration beseitigt werden können. Extrem rechte Parteien und Populisten, sagt der Rechtsphilosoph, ersetzen die mühsame Problemerörterung der komplexen Gründe für Migration einfach durch verschwörungsideologische Versatzmuster. Flüchtlinge an den Grenzen? George Soros habe Schuld. Seenotrettung? Die NGOs seien es, die die Fluchtbewegungen erst auslösen würden.
Dass es ein Bewusstsein für die eigentlich begrenzten Handlungsmöglichkeiten beispielsweise beim Migrationsthema gibt, scheint dennoch bisweilen durch. Die Gegner der supranationalen Institutionen und Rechtsvereinbarungen sehen ihr Heil im Nationalstaat, wer sich durch das vereinte Europa oder die Menschenrechtskonvention in seiner Politik eingeschränkt fühlt, wird genau dies in Frage stellen. "Das Recht hat der Politik zu folgen, nicht die Politik dem Recht", forderte Ex-Innenminister Herbert Kickl. Das habe sich gegen die vor allem internationalen menschenrechtlichen Standards gerichtet. Doch auch die seien Ergebnis und Errungenschaft der Politik, ruft Stefan Hammer in Erinnerung.
Zweifelsohne haben die Themenkomplexe Migration, Asyl und Sicherheit im laufenden Wahlkampf im Vergleich zum letzten Wahlkampf 2017 an Bedeutung verloren. Der Klimawandel ist, zumindest den Erhebungen des Eurobarometers zufolge, sukzessive zum wichtigsten Thema für die Österreicher geworden. 26 Prozent halten ihn für das größte Problem. Dass das Thema für alle Parteien, die Grünen ausgenommen, ein unangenehmes ist, liegt auf der Hand: Anders als Migration treffen vorgeschlagene Maßnahmen der Parteien nicht die Anderen, die Fremden, die Flüchtlinge und Migranten, sondern die Wähler selbst. Umgehen oder ignorieren kann man das Thema aber auch nicht. Ein Dafür oder Dagegen gibt es keines, für polarisierte Positionen wie bei Migration oder Sicherheit eignet sich das Thema nicht, es sei denn, man greift wie der zurückgetretene Vizekanzler Heinz-Christian Strache auch hier auf Verschwörungstheorien zurück.
Folgt man der Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle, Leiterin der Public-Management-Lehrgänge an der FH Kärnten, lassen sich die Parteien hier in zwei Gruppen einteilen: diejenigen, die mehr oder weniger strenge staatliche Eingriffe fordern, und jene, die an die persönliche Verantwortung der Konsumenten und Bürger appellieren. "Nicht in jedem Salat muss eine Avocado drin sein", ließ beispielsweise ÖVP-Chef Sebastian Kurz wissen. Das ist einfacher, als direkt vor der Wahl eine CO2-Steuer vorzuschlagen, die, wie Kurz selbst sagte, die Bürger "zusätzlich belasten würde".
Spiel in beide Richtungen
Stellt man die Argumentationsmuster im Kontext der supranationalen Ebene bei Klimawandel und Migration und Flucht gegenüber, zeigt sich, dass das Spiel mit der EU in zwei Richtungen funktionieren kann. Weil es keine EU-Lösung bei der Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Staaten gibt, müsse man im Alleingang die Grenzen schützen - dass Kurz die Balkanroute geschlossen habe, war eine der wichtigsten Wahlkampf-Ansagen des ÖVP-Chefs. "Der Kampf gegen den Klimawandel kann nur gemeinsam gewonnen werden", sagte Kurz im Mai. "Die Europäische Union muss hier an einem Strang ziehen." Auch zur Delegierung von Verantwortung kann die EU dienen.
Andererseits zwingt eben das Thema Klimawandel die Parteien, konkrete Pläne vorzulegen. Und die sind teilweise bemerkenswert, wie Stainer-Hämmerle ausführt: Die Neos sind plötzlich für (CO2-)Steuern (und wollen aber gleichwohl diese durch Senkungen anderswo, beispielsweise bei der Einkommensteuer, abfedern), Werner Kogler von den Grünen sagt, er sei "gegen Verbote" im Kampf gegen den Klimawandel (wobei dieser durchaus mit Verzicht verbunden sei), und die SPÖ verschiebt ebenso wie die ÖVP die CO2-Steuern auf die europäische Ebene, will ihren Wählern keinesfalls das Schnitzel verteuern und spricht vom EU-Markt, aus dem klimafeindliche Produkte genommen werden sollen. Einzig die FPÖ tut das, was eine rechtspopulistische Partei eben tut, sagt die Politologin: Sie verschiebt das Problem in die Zukunft. Noch vor der ÖVP sprach FPÖ-Chef Norbert Hofer von Wasserstoff-Autos, mit denen man ohnehin in näherer Zukunft fahren werde. "Eine nachhaltige CO2-Reduktion ist ohne Einbindung der USA oder des Wirtschaftsriesen China außerdem wirkungs- und sinnlos", lässt das Wahlprogramm der Freiheitlichen wissen.
Einerseits sei die Erwartungshaltung in die Problemlösungskompetenz der Politik gestiegen, andererseits vertrauen die Wähler immer weniger in eben diese Lösungskompetenzen, sagt die Politologin. Möglich ist das Verschiebe-Spiel der politischen Handlungsfähigkeit aber auch, weil zwar Problemlösungskompetenzen auf die supranationale Ebene übertragen wurden, dort aber nicht wahrgenommen werden, erklärt Alexander Somek, ebenfalls Rechtsphilosoph und Institutskollege von Stefan Hammer. Die fehlende Konsensfähigkeit ist ein Konstruktionsfehler der EU, den wir nun doppelt stark zu spüren bekommen. Von "Weltinnenpolitik" sprechen politische Philosophen heute, wenn es gilt, Problemlösungen auf internationaler Ebene zu finden.
Sinowatz’ Zitat wird meist verkürzt wiedergegeben. Es im Volltext zu lesen, lohnt heute mehr denn je: "Ich weiß (...), das alles ist sehr kompliziert, so wie diese Welt, in der wir leben und handeln, und die Gesellschaft, in der wir uns entfalten wollen. Haben wir daher den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen. Zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und für jeden in einer pluralistischen Demokratie gar nicht geben kann. "