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Glockenkurven an der Donau

Von Franz Zauner

Reflexionen

Ein Transparenz-Versuch über Wien in Zahlen und Daten.


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Zahlen sind unpersönlich, deshalb: Gestatten, Michael. Michael ist Wiens Otto Normalverbraucher. Um 7 Uhr ist er aufgewacht, etwas spät. Um halb acht steht er schon in der U-Bahn. Er steht, weil es dort, wo er einsteigt, um diese Zeit keinen Sitzplatz gibt. 178.000 Wiener wandern zu dieser frühen Stunde durch Wiens U-Bahnstationen. Michael stört sie nicht wirklich. Er ist kein Fahrgast. Michael ist eine allgemeine Erfahrung.

Eine ausschließlich aus Zahlen bestehende Stadt offenbart auf statistisch zuverlässige Art, was sie im Innersten (und nicht nur dort) zusammenhält.
© Grafik: Richard Kienzl

Gelebter Durchschnitt

Statistik gilt als demokratischer Hoffnungsträger. Sie soll die Welt ähnlich durchsichtig machen wie ein Glasreiniger Fenster. Es gibt viele Statistiken in und über Wien. Michael ist ihre Personifikation. Es gibt ihn, damit wir in Erfahrung bringen können, ob er auf diese eine Frage eine Antwort weiß: Wie geht’s? Darauf gibt es in Wien theoretisch 1.731.236 Echos.

Michaels Antwort ist die wahrscheinlichste. Er befindet sich genau in der Mitte der 857.508 unselbstständig Beschäftigten, die in dieser Stadt in mäßiger Wechselwirkung stehen. Er ist das typische Elementarteilchen der Wiener Masse, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein flexibler Angestellter. Er ist bald 40 Jahre alt, mit zu wenig Zeit zum Zeithaben. 35.000 Euro brutto macht Mi- chael im Jahr, seine Frau muss es um 10.000 Euro billiger geben. Sie wohnen auf 40 Quadratmeter pro Kopf, beschützt vom Mietrecht. Die Zeit wäre reif für eine spektakuläre Immobilie, aber in Wien gelten 5000 Euro pro Quadratmeter schon als preiswert. 130 Liter Schmutzfracht schickt Michael täglich gen Simmering, wo die Hauptkläranlage steht. Man käme täglich auf 15 bis 20 Lines Kokain pro 1000 Einwohner, würde man die Abwässer dort chemisch betrachten, es wäre guter europäischer Durchschnitt.

Michael aber ist sauber. Einen halben Kilo Altglas sammelt er pro Woche. Er besitzt eine von 730.302 Rundfunkbewilligungen. An den fünfeinhalb Millionen Kinobesuchen der Stadt nimmt er regen Anteil. Er hat Matura und fährt einen weißen VW. 78 Jahre lang wird er leben, bevor das Jahr kommt, in dem er zu einem von 16.194 Todesfällen wird. Seine Frau könnte ihn um sechs Jahre überleben. Michael arbeitet 135 Minuten täglich im Haushalt, seine Frau 269 Minuten. Die Ehe wird so sicher geschieden, wie eine Münze auf Zahl fällt.

Weil wir ihn jetzt schon so gut kennen, dürfen wir Michi zu ihm sagen. Wiener sind jovial. Michi war in den 70er Jahren jener Name, der Paaren am häufigsten einfiel, wenn sie einen Knaben nach Hause brachten. Heute gefallen ihnen die Namen Sophie und Maximilian. In Michis Generation hießen die Frauen öfter Claudia.

Claudia also. Claudia ist wahrscheinlich 42, Akademikerin, sonst aber unwahrscheinlich. Sie bezieht ein arbeitsloses Grundeinkommen in Form von Renditen. Sie ist eine von 17.900 WienerInnen, die über eine, zwei, viele Millionen Euro verfügen. Wenn wir uns fragen, wen die Aktienkurse interessieren, die unten über die Fernsehschirme huschen, wäre Claudia die Antwort.

Statistische Ausreißer

In jeder Statistik gibt es Ausreißer, die an den Rändern der Glockenkurven siedeln. Die Wahrheit liegt immer in der Mitte. Mit großer Wahrscheinlichkeit weiß in Wien am ehesten der Hausherr des Penthouses, der Villa, des Altbautraums, wo die Konten wohnen. Dafür braucht man in der modernen Finanzwelt mitunter solide Kenntnisse der Geographie.

Der Wohlhabende, sagt die Reichenforschung, hat es aber nicht ganz leicht. Sinnkrisen gibt es überall, aber bei Reichen kommen sie öfter vor. Der Reiche neigt dazu, in einem Gefängnis der Möglichkeiten zu leben. Es ist seine außerordentliche Wahlfreiheit, die ihn in die Depression treibt. Exzentrische Hobbys sind eine gängige Therapie. Zum Ausgleich wollen wir uns Claudia als Sonnenschein denken, wenn wir sie denn finden.

Den Reichen müsse man mit dem Nachtsichtgerät suchen, sagt der Politologe und Reichtumsforscher Ernst-Ulrich Huster, er sei scheu wie ein Reh. Das gilt auch für seine Statistiken. Armutsberichte gab es einige in Österreich, Reichtumsbericht lange keinen. Jetzt liegt einer vor: Die obersten 800.000 besitzen 581 Mal so viel wie die untersten 800.000. Den 10 Prozent ganz oben gehören etwa zwei Drittel der österreichischen Euros und Immobilien.

Schaut man von der Wall Street herab nach Wien, sieht man freilich nichts Besonderes. Alle Wiener Wertpapiere zusammen kosten 70 Milliarden Euro. Bill Gates könnte sich fast alle kaufen. Claudia nicht. In dieser Welt ist Wien nicht einmal ein Dorf. Der Aktienberg der Wall Street wird mit 17,6 Billionen Dollar aufgewogen, er wäre 251 Mal so hoch wie das Wiener Wertpapiertürmchen.

Es gibt, wie überall, auch in Wien drei Parallelgesellschaften, die auseinandertreiben wie Galaxien nach dem Urknall: die Reichen, die in der Mitte, und die darunter. Wenn wir grobe Ähnlichkeiten und feine Unterschiede zulassen, passen trotzdem alle in eines dieser modernen Milieu-Diagramme: Michael wäre Repräsentant der bürgerlichen Mitte und Claudia eine expeditive Experimentalistin. Das wäre auch Petra am liebsten, wenn sie könnte. Aus praktischen Gründen lebt sie als Konsum-Materialistin im Milieu Prekär, knapp neben der Hedonismus-Blase. Petra ist die Dritte im Bunde, eine alleinerziehende Mutter. Petra ist nicht ganz so unwahrscheinlich wie Claudia. Armut hat viele Gesichter, eines davon ist weiblich. Petra könnte ein Unidiplom haben und trotzdem eine leere Brieftasche.

Die Zahlen, die für Bürden stehen, werden seit Jahren nicht kleiner: Es gibt in Wien mehr als 8000 Wohnungslose, fast 80.000 Arbeitslose. In den ärmeren Bezirken sterben die Frauen durchschnittlich zweieinhalb Jahre früher als in den Nobelgegenden. Jeder Zehnte spart beim Essen, noch mehr sparen beim Heizen. Für die 100 Euro Heizkostenzuschuss, die im Winter verteilt werden, gibt es in der nobleren Gastronomie zweimal Lammkrone und einen guten Roten vom Heideboden.

Bäume statt Armut

Gibt man beim Open Data Portal der Stadt Wien den Begriff "Armut" ein, verschweigt sich die sonst so freizügige Datenbank. Fragt man nach "Baum", sprudeln die Daten. Ferdinand Lacina darf sich bestätigt fühlen: "Wir zählen mit Akribie die Anzahl der Obstbäume, aber wir behandeln die Vermögen sehr diskret", meinte der ehemalige Finanzminister einmal.

Das ist allerdings kein Argument gegen das Zählen von Bäumen. 100.000 Bäume betreut die Stadtverwaltung. Sie sind selbstverständlich amtsbekannt, zum Beispiel der Baum Nummer 8 in der Kaiser Ebersdorfer Straße, ein Götterbaum. Auf diesem Datenfeld ist das Projekt "Fruchtfliege" geschlüpft. Die dazugehörige App spürt Obstbäume auf öffentlichem Grund auf. Obst, das man findet, muss man nicht kaufen.

Was man kaufen muss, kann sich Michi leisten. Für einen Big Mac muss er nur 17 Minuten arbeiten. Diese Fleischrechnung lässt ihn freilich kalt. Vor 25 Jahren kamen pro Jahr und Wiener noch 25 Kilo Rindfleisch auf die Tische, heute sind es nur noch sechs. Aus der Sicht der Fische war diese Entwicklung gar nicht gut. Der Fischverzehr hat sich im selben Zeitraum auf vier Kilo verdoppelt. Sieben Prozent der Wiener leben vegetarisch, zehn Prozent der Vegetarier leben vegan. Wenn wir Michis Appetit statistisch rekonstruieren, dann isst er brav: mehr Fisch und Gemüse als früher, nicht ganz so viel Fleisch wie seine Eltern. Allerdings wirft er 40 Kilogramm Lebensmitteln im Jahr weg, die er eigentlich essen hätte können. Das hätten seine Eltern nie übers Herz gebracht.

Sie hätten sich auch nicht so viel bewegt wie Michi. Will er zu Fuß gehen, kann er zwischen 253.435 Quadratmetern wählen. Die Autos haben 8.000.000 Qua-dratmeter zur Verfügung, das ist die Fläche der Bezirke 4 bis 8. Der Sprit wird teurer, aber nicht nur deshalb sind Fußgänger und Radfahrer im Kommen. Der zeitgenössische Körper braucht nicht nur Bewegung, er liebt sie, wie ein Blick in die Prater Hauptallee zeigt, wo die Massen joggen, walken, treten und rollen. Mehr als eine Million Fahrräder gibt es bereits in der Stadt. Immer öfter wird damit auch gefahren, was uns auf ein konfliktträchtiges Terrain führt.

Denn manchmal werden die Wiener einander ein bisschen zu viel. Davon könnte Lisa erzählen, eine von 176.125 StudentInnen auf der Jagd nach Seminarplätzen. Mit Karl-Heinz müssten wir auch noch reden. Es gibt 590.845 Wiener, die nicht immer Wiener waren. Die meisten Zuwanderer kommen aus Deutschland nach Österreich, etwas weniger aus Serbien, Montenegro, Kosovo und der Türkei. Zehn Prozent mehr Wiener in zehn Jahren, in diesem Tempo wächst die Stadt. Das Menschen-Wachstum regiert zwei weitere Variable: Es nützt der Wirtschaft und beflügelt die Rechtspopulisten.

Massen fallen in dieser Stadt auf, sie sind nicht selbstverständlich, sie werden nicht hingenommen, es wird etwas gegen sie unternommen. Im Gender-Mainstreaming-Pilotbezirk Mariahilf etwa wurden die Gehsteige verbreitet und die Ampeln bekamen "Voreilzeiten". Trotzdem erinnert Wien, wenn auch nur entfernt, an keinem anderen Ort so sehr an Manhattan am Morgen, an Istanbuls Goldenes Horn am Abend. Es ist vermutlich die einzige Stelle der Stadt, wo tagaus, tagein Menschenmassen wogen. In letzter Zeit war mitunter auch die U4 so überfüllt, als käme sie aus Tokyo - wegen der Pendler, die nicht mehr umsonst parken können.

Zahlen des Stillstands

Zu den Statistiken, die es nicht gibt, gehören die Zahlenreihen des Stillstands: Wie viele Stunden warten die Menschen in dieser Stadt: auf die U-Bahn, im Auto, in Arztpraxen, vor Supermarktkassen, in Warteschleifen und Wartehäuschen? Wartet man im Durchschnitt wirklich länger, oder sind die Leute bloß ungeduldiger geworden? Wenn man die Österreichkarte des Zeitwohlstands ausbreitet, und die gibt es wirklich, dann siedelt der Durchschnittsmann Michi bereits in einer Zone, in der gehechelt wird. Michi muss Zeit sparen, er könnte mehr Zeit brauchen, er ist öfter in Zeitnot. Auch die OECD sieht Österreichs Work-Life-Balance ein wenig unter dem Durchschnitt.

Ansonsten aber ist es in Wien keine Last, Durchschnitt zu sein. Die Statistiken präsentieren eine hübsche Glockenkurvenstadt, wenn man die vertrauten Dimensionen des Menschlichen - Bildung, Gesundheit, Sicherheit und dergleichen - betrachtet. Vor kurzem wurde Wien in der UNO-Studie "State of the World Cities" sogar als erfolgreichste Stadt der Welt gefeiert. In einem Punkt ist Wien unübersehbar herausragend: Unter allen Destinationen, die für organisiertes Palaver mit Sightseeing-Anschluss in Frage kommen, darunter immerhin Schönheiten wie Paris, Berlin oder Singapur, behauptet die Stadt hartnäckig den ersten Platz. Die Stadt ist ein Sehnsuchtsort, die Welthauptstadt für Kongresse. 181 waren es 2011.

Vielleicht liegt eine Ursache dafür gerade in der nummerologischen Bescheidenheit der Stadt. Zieht man eine Statistik aus all den Statistiken, dann erscheint Wien, mehr oder weniger, ungefähr oder genau, als eine Manifestation der kleinen Zahlen. Kleine Zahlen sind wahrscheinlich ein großes Glück. Sie lassen sich leichter verändern. Michi wird auf die Frage, wie es ihm geht, mit verhaltenem Frohsinn antworten: Es geht.

Franz Zauner, geboren 1959, ist Leiter der Online-Redaktion, stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung" und Autor der "extra"-Ru-brik "online/offline".

Viele Daten dieses Artikels wurden dem Open Government Portal der Stadt Wien und der Online-Datenbank des Statistischen Zentralamts entnommen. Auch die Wiener Linien und das Marktamt Wien haben Zahlen und Fakten beigesteuert.