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Glorifizierte Tragödien

Von Robert Schediwy

Wissen
"Titanic"-Nostalgiker spazieren durch Cobh.

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Cobh (sprich Kouw), nahe Cork, geizt nicht mit seinen Reizen. Bunte Häuser umrahmen eine stattliche neugotische Kirche. Ein Blick auf die Angebote des örtlichen Realitätenhandels bestätigt: das Hafenstädtchen ist ein teures Pflaster. Das Heritage Center im alten Uferbahnhof macht freilich klar, welches Maß an Leid mit der Geschichte der heute so freundlichen irischen Kleinstadt verbunden ist: Cobh, einst Cove geschrieben und dann, nach einem Besuch Königin Victorias 1849 bis 1921 Queenstown genannt, ist eine Stadt, die auf Tränen gebaut ist.

Über viele Jahrhunderte versuchten die britischen Herrscher das unruhige Irland zu unterjochen. Die Tudor-Periode begann mit der massenhaften "Einpflanzung" loyaler protestantischer Siedler. Das führte zu Aufständen, so 1568-1573 und 1579-1583. 1595 schien der von Spanien unterstützte große Aufstand unter Hugh O’Neill erfolgreich, aber die Vernichtung der Ernte und die Beschlagnahme der Viehherden im Norden der Insel wendete im Jahr 1600 das Kriegsglück.

Nach dem Waffenstillstand von 1603 verließen viele irische Adelige das Land. 1609 folgte eine neue Ansiedlungswelle, die Ulster Plantation, und 1641 ein Blutbad an Siedlern. Dann ließ Cromwell bei der Rückeroberung Irlands das Land verwüsten. Gefangene Aufständische wurden als Sklaven in die Karibik deportiert. 1690 kämpften die katholischen Iren als "Jakobiten" gegen die "Glorious Revolution", verloren und wurden noch mehr entrechtet.

Widerstandsgeist

Aber der Widerstandsgeist blieb ungebrochen. 1750 kam es wieder zu Aufständen, desgleichen 1800 (mit Unterstützung Napoleons) und 1843. Alle Versuche der Briten, durch Ansiedlung loyaler Protestanten das Land unter Kontrolle zu bringen, verstärkten nur die fanatische Bindung der Iren an ihren Katholizismus.

In dieser Situation eines nahezu permanenten Bürgerkrieges entdeckte die britische Regierung zu Ende des 18. Jahrhunderts ein - wie es schien - probates Mittel, die rebellischen Iren zu zähmen und zugleich ferne Kolonien zu entwickeln: die Deportation. Zwischen 1791 und 1853 wurden von Cove aus etwa 40.000 Sträflinge nach Australien verschifft. Diese Strafe wurde für die unterschiedlichsten Delikte verhängt: von Taschendiebstahl bis Mord. Etwa zwanzig Prozent der nach Australien verschickten "Kriminellen" waren allerdings politische Delinquenten, und sie wurden besonders brutal behandelt. Vor der Überfahrt wurden die Gefangenen in schwimmenden Gefängnissen festgehalten, alten Kriegs- und Handelsschiffen, die mastenlos vor Cove ankerten.

Auch nach dem Ende der Deportationen riss der Strom an Menschen, die via Cove Irland verließen, nicht ab. Missernten führten in den 1840er Jahren zu massenhafter Auswanderung in die USA. Auch nach der Hungerkrise ging der Exodus weiter. Diese freiwilligen Emigranten nahmen aber ihr ungebrochenes Selbstbewusstsein mit, und ihr politischer Katholizismus wirkte zurück auf die nationale und ideologische Sammlungsbewegung in der alten Heimat. Die mächtige Kathedrale von Cobh, 1919 vollendet, setzt dafür ein architektonisches Zeichen.

Lust an Katastrophen

Kleinere Nationen, deren Geschichte eher von Unterdrückung als von Triumphen berichtet, entwickeln, so scheint es, oft eine Faszination durch Niederlagen und Tragödien. Die Serben feiern ihre Niederlage auf dem Amselfeld, die Ungarn ihre vergeblichen Aufstände von 1704 bis 1956.

Auch die Iren haben einiges zu feiern. Eine solche Situation scheint zu einem generellen Kokettieren mit dem Tragischen zu führen. Warum wäre Cobh sonst stolz darauf, der Hafen zu sein, an dem die "Titanic" auf ihrer tödlichen Jungfernfahrt zum letzten Mal Halt gemacht hat? Und ganz in der Nähe liegt noch dazu der Ort, an dem die "Lusitania" von einem deutschen U-Boot 1915 versenkt wurde. . .

Heute scheinen die blutigen Gespenster der Vergangenheit gebannt. In der Irischen Republik gilt der Euro, in Großbritannien hält man am Pfund fest, aber die Grenzen sind durchlässig. Doch die "Bevölkerungsverpflanzungen" haben ihre bittere Spur hinterlassen. In Belfast sind die kämpferischen Wandgemälde der Bürgerkriegsparteien der 1970er und 1980er Jahre eine Touristenattraktion. Und es gibt noch eine Art Mauer zwischen den Vierteln Falls (katholisch) und Shankill (protestantisch). Sie waren das Zentrum dessen, was heute euphemistisch als "Troubles" bezeichnet wird. Übrigens: Die "Titanic" mag von Cobh aus in den Untergang gedampft sein - gebaut wurde sie in Belfast. Darauf ist man dort bis heute stolz.