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"Mama, ich bin zu groß! Ich pass da nicht mehr rein!" Die 10-Jährige kniet vor einem der drei kleinen dunkelroten Holzhäuschen und merkt, dass die Tür für sie zu niedrig ist. Es sind die drei Höfe von Bullerbü, die hier in Miniaturform nachgebaut sind. Von einem weißlackierten Lattenzaun umgeben, laden sie die Kinder ein, hereinzukommen. "Die Häuser in Lönneberga sind größer!"
Freilichttheater
Das Kind war vor vier Jahren schon einmal hier und erinnert sich genau. Der Weg führt am Teich vorbei, und auf einer kleinen Anhöhe liegt Lönneberga: das Haus von Michels Familie, der Schuppen, in den er zur Strafe für seine Streiche gesperrt wird - und da kommt er auch gerade, verfolgt von seinem Vater, der wieder einmal erbost ist über den frechen Sohn. Michel hat den Kopf so tief in den Suppentopf gesteckt, dass die Mutter den Topf zerschlagen muss, um den Kopf zu retten . . .
Nachdem Michel und seine Familie zusammen mit Knecht Alfred und Magd Lina noch ein Lied gesungen haben, öffnen sie das Törchen und die Besucherkinder dürfen hineinströmen und die Häuser von Lönneberga von innen unter die Lupe nehmen. Inzwischen aber hat es zu regnen begonnen, und zwar so fest, dass die Schauspielertruppe mit den Gästen das Grundstück verlässt und ihre Lieder im nahegelegenen Café weitersingt - bis dort plötzlich der Herr Pfarrer auftaucht, der von den Kindern Michel und Klein-Ida ein Gedicht vorgetragen haben möchte. Hinter ihnen drängen die Besucher von draußen herein, versorgen sich an der Theke des gemütlich altmodischen Cafés mit Kaffee und Kuchen und lassen sich dann auf Sesseln rund um die Schauspieler herum nieder.
Was in Vimmerby so locker improvisiert erscheint, ist die Kunst professioneller Schauspieler, in diesem größten Freilichttheater Schwedens nicht nur die Welt aus Astrid Lindgrens Büchern erstehen zu lassen, sondern auch mit spontan entstehenden Situationen souverän zu spielen. Denn nicht wenige Besucher - vor allem Familien - pilgern jedes Jahr in das südschwedische Städtchen, in dem die berühmteste Kinderbuchautorin der Welt aufwuchs.
Angefangen hat der große, im Wald gelegene Freizeitpark "Astrid Lindgrens Värld" ganz klein: 1981 hatten drei Tischler aus Vimmerby die Idee gehabt, Häuser in Kindergröße in den Wald zu bauen, damit ihre eigenen und fremde Kinder in einer "richtigen" Villa Kunterbunt Szenen aus Lindgrens Büchern nachspielen konnten. Dafür bedurfte es des Einverständnisses der Autorin, die dieses nur unter der Bedingung gab, dass kein Eintritt eingehoben werden dürfe - allenfalls Parkgebühren.
Unter stetig wachsendem Zuspruch reifte die kleine Lindgren-Welt heran, bis sie ihren Gründern über den Kopf wuchs und diese sie an die Baufirma Riquma verkauften. Nach deren Bankrott 1991 führte eine Versicherungsfirma den Park provisorisch weiter bis ins Jahr 2000, in dem schließlich die Stadt Vimmerby selbst in Form einer Aktiengesellschaft zum Besitzer wurde und das große Waldgelände als "Astrid Lindgrens Värld" übernahm. "Immer noch ist es unser oberstes Gebot, die Kinder zum Lesen anzuregen", sagt Marketingchef und Vizepräsident Nils Magnus Angantyr.
Wenig Kommerz
Die 10-Jährige ist inzwischen in der Mattisburg von Ronja Räubertochter angekommen und hat längst vergessen, dass alles vor vier Jahren noch besser in die kleinen Häuser gepasst hat. Denn auch "Astrid Lindgrens Värld" ist gewachsen. Eine wuchtige steinerne Burg füllt inzwischen den Bühnenraum der Lichtung aus: Die Besucherplätze sind wie in einem Amphitheater ringsum angeordnet. Ganz oben im Turm, der sogar für Erwachsene groß genug ist, hat Glatzen-Per, der älteste der Mattisräuber, sein Schlaflager mit Schaffell und echten Kerzen.
Das deutsche Kind steht inmitten der kleinen schwedischen Besucher: Wieder hat es vollkommen vergessen, dass sich hier alles auf Schwedisch abspielt. So lebhaft ist das Theaterspiel, so bekannt sind ihm die Geschichten, dass die fremde Sprache gar nicht auffällt. Rund 70 Prozent der Besucher sind Schweden. Von den verbleibenden 30 Prozent halten Dänemark und Deutschland mit je elf Prozent den Löwenanteil. Das Kind ist inzwischen bei einer Häuserzeile angelangt, in der von der Küche unten bis zum Dachstuhl alles begehbar ist.
Viel "echter" geht es nicht mehr. Für Lindgrens Familie, vor allem ihre Tochter Karin, ist es wichtig, dass der Park bleibt, "wie Astrid es gewollt hätte". Also so wenig Kommerzialisierung wie möglich. In den Restaurants und Kiosken gibt es weder Cola noch Pommes, stattdessen schwedische Hackfleischbällchen mit Preiselbeeren, frische Waffeln, Zimtschnecken. Die Trinkbecher haben den Aufdruck "Pippi Langstrumpf". Man will eine eigene Marke bleiben. Und so wenig wie möglich ablenken vom großen Thema des Parks: der kindlichen Phantasie.
Alles begann in Näs
Das Glück, im Spiel aufzugehen, und der Schmerz, mit dem Älterwerden ins alte Spiel nicht mehr hineinzupassen: Diese Erfahrung vieler Kinder war auch für Astrid Lindgren fundamental. Verlässt man das Gelände des Parks und geht einen halben Kilometer an der großen Straße entlang, sieht man auf der linken Seite Näs liegen: Astrid Lingrens Heimathof, den ihr Vater Samuel August mit mehreren Arbeitskräften bewirtschaftete. In den Wiesen, zwischen Bäumen, ein gelbes Haus, in dem die Familie später lebte; im rechten Winkel dazu das rote Haus. Nah an der Straße: der hohle Baum, der in "Pippi Langstrumpf" der "Limonadenbaum" genannt wird.
Vieles aus Lindgrens Werk hat in Näs seinen Anfang. Hier wurde Astrid Eriksson 1907 als zweites Kind nach Bruder Gunnar geboren. Nach ihr kamen noch die Schwestern Stina und Ingegerd. Auch "Bullerbü" war hier: "Wir haben gespielt und gespielt - und es ist ein Wunder, dass wir uns nicht totgespielt haben." Oft in ihrem Leben wird Astrid Lindgren sagen, dass die Verbindung von Freiheit und Geborgenheit das Gücksgeheimnis ihrer Kindheit war - und ein Elternpaar, das sich innig liebte.
Eine Dauerausstellung in einem Museumsneubau, der ein bisschen abseits von Lindgrens Häusern liegt, zeigt viele Bilder aus Lindgrens langem Leben: das große dünne Mädchen, verträumt, mit riesigen Schleifen im Haar; die 17-jährige Astrid mit Schiebermütze und Männerkleidern neben der lieblichen Freundin Anne-Marie; die junge Astrid, die nach einem Schulaufsatz schon die "Selma Lagerlöf von Vimmerby" genannt wurde und bei der Ortszeitung volontierte. Wenig später erwartete sie ein Kind vom Chefredakteur. Aus dieser Zeit gibt es kein Bild - überliefert ist ihr Kommentar zum Heiratsangebot des Kindsvaters: "Lieber tot sein. Ich liebte ihn kein bisschen."
19 Jahre alt war Astrid, als die Härte des Lebens sie mit voller Kraft einholte. Um die Familie vor dem Gerede in dem Dorf zu schützen, brachte sie ihren Sohn Lasse 1926 in Kopenhagen zur Welt und ließ ihn drei Jahre in der Obhut einer Pflegemutter, während sie selbst in Stockholm Geld verdiente. Tapfer, trotzig, stolz: Aus dieser Zeit stammt eines der zauberhaftesten Bilder von ihr: die 23-Jährige in Mantel und Käppi, keck das Bein angewinkelt und den vierjährigen Lasse an der Hand: "Sie war ja nicht wie andere Mütter", erzählte er später. "Sie saß nicht neben dem Sandkasten auf einer Bank. Sie wollte selber spielen!"
Ein Jahr später heiratet sie Sture Lindgren, und holt Lasse zu sich. 1934 wird Tochter Karin geboren. Es gibt viele Bilder von Astrid Lindgren mit ihren Kindern, mit Ehemann Sture; Bilder von ihr als Verlagslektorin im Verlag Rabén und Sjögren; und viel später die alte Astrid Lindgren, die einen verlegenen Skinhead bei den Hosenträgern packt; die alte Dame, auf einen Baum kletternd: "Hat jemand gesagt, dass alte Weiber nicht auf Bäume klettern dürfen?"
Das Unbeschwerte, Fröhliche war nur ihre eine Seite. Über den Bildern liegt oft auch eine Melancholie - und so hat sich auch Astrid Lindgren selbst empfunden: melancholisch. Vielleicht hat das damit zu tun, wie sie ihr Kindheitsparadies Näs verlassen musste - abrupt, einsam. Ausgerechnet sie, für die eine unbeschwerte Kindheit heiliges Gut war, musste ihren kleinen Sohn zu einer Pflegemutter geben, um ihren und seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
"Manche Dinge muss man tun, auch wenn sie gefährlich sind, sonst ist man kein Mensch, sondern ein Stückchen Dreck". In ihrem Roman von den "Brüdern Löwenherz" hat Lindgren am stärksten und bewegendsten ausgedrückt, dass Kindheit keineswegs immer ein Raum ist, der von den schweren Themen des Lebens unbelastet ist.
Der berühmte Satz fällt gleich mehrfach im Roman. Immer wieder sagt ihn der tapfere Jonathan - vielleicht auch, um sich selbst Mut zu machen, wenn er ein weiteres Mal aufbrechen muss, um den bösen Ritter Kato zu bekämpfen und sein Leben zu riskieren. Der Satz könnte so etwas wie ein Credo von Astrid Lindgren sein, ein Motto ihres Lebens. War sie doch viel mehr als eine Jugendbuchautorin - sie war eine politische Denkerin und eine in Schweden hoch respektierte "Meinungsbildnerin". Sie erhob die Stimme gegen Atomwaffentests und Vietnamkrieg; sie war es, die 1976 mit ihrem Märchen "Pomperipossa" über absurde Steuerpolitik nach 44 Jahren sozialdemokratischer Regierung einen Machtwechsel provozierte. Ihr Einfluss führte maßgeblich dazu, dass 1979 Schweden als erstes Land Eltern via Gesetz jegliche Gewaltanwendung gegenüber ihren Kindern verbot.
In der Stockholmer "Kungliga Biblioteket" füllt das Astrid Lindgren-Archiv knapp 150 Regalmeter. 2005 wurde es zum UNESCO-Welterbe erklärt und 2008 für Forscher geöffnet. Archivarin Lena Törnqvist erzählt von zehntausenden Briefen, die an Lindgren eingingen. Den "vielleicht wichtigsten" nennt Törnqvist jenen, den Lindgren 1988 von einer Achtjährigen erhielt, deren Eltern von Schweden nach Kurdistan zurück mussten: "Liebe Astrid, der echte Ritter Kato lebt im Irak und heißt Saddam. Er tötet Kinder. Bitte schreib über ihn."
Auch für Karin Nyman, heute 77, ist die Zivilcourage ihrer Mutter eine von deren wesentlichsten Eigenschaften. "Als sie 1978 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten sollte, reichte sie vor der Verleihung ihre Rede ,Niemals Gewalt! ein, die sich radikal gegen jede Form von Gewalt in der Kindererziehung aussprach. Man schrieb ihr, die Rede sei nicht geeignet. Dann würde sie es vorziehen, gar nicht zu kommen, schrieb Astrid zurück. Daraufhin beeilte man sich, die Einladung zu bekräftigen."
Prinzipienreiterin Pippi
Tochter Karin Nyman empfängt zum Gespräch in jener Stockholmer Wohnung, in der Lindgren von 1941 bis zu ihrem Tod 2002 gelebt hat. Hier hatte auch Karin 7-jährig den Namen "Pippi Langstrumpf" erfunden. "Meine Mutter erdachte dann diese Geschichte zu Pippi Langstrumpf, und schrieb sie auf, weil sie 14 Tage mit einem verstauchten Knöchel das Bett hüten musste. Sie schrieb ja fast alles im Bett, nein, sie stenografierte, und schenkte mir dann diese - heute ,Ur-Pippi genannte - Version zu meinem zehnten Geburtstag."
Der erste Verlag lehnte den Text über die rebellische, aufsässige Pippi ab - und Lindgren arbeitete jene Szenen, die scharf und kritisch mit der Gewaltbereitschaft Erwachsener gegenüber Kindern ins Gericht gingen, um. "Die erste Pippi war eher eine Prinzipienreiterin". Als die neue Fassung vom Verlag Rabén und Sjögren 1945 publiziert wurde, dauerte es nicht lange, bis Pippi ein Weltstar war - und ihre erste "Besitzerin" sie mit Kindern überall auf der Welt teilen musste.
"Alles in Zusammenhang mit Pippi hat sich über die Jahre so verändert, und heute taucht sie hier als Puppe und dort als Bild und da als Filmfigur auf, und am wenigsten noch als das Mädchen in dem Buch - das ist es, was ich wirklich bedaure. Sie ist inzwischen mehr ein Phänomen als eine Geschichte."
Astrid Lindgren, so wünscht es sich ihre Tochter, soll weiterhin dort gesucht werden, wo sie vielleicht am intensivsten wohnte: in ihren Büchern. "In diesen 70 Jahren nach dem Tod, in denen ein Werk nicht freigegeben ist, muss jemand da sein, der es schützt vor Manipulationen, Umschreibungen, grässlichen Verfilmungen. Und solange wir leben, werden wir als Familie das tun."
Keine leichte Aufgabe. Inzwischen besitzt die von der Familie gegründete Saltkrokan AG auch 70 Prozent an "Astrid Lindgrens Värld". Wie Nils Magnus Angantyr berichtet, ist eine nächste Phase des Parks bereits auf den Weg gebracht: In etwa drei Jahren hofft man, neben dem Campingdorf auch ein Hotel gebaut zu haben. Dies wäre die Voraussetzung, um "Astrid Lindgrens Värld" auch im Winter geöffnet zu halten.
Mittlerweile ist es fast Abend, bald schließt der Park. Atemlos läuft die 10-Jährige noch einmal durch die nachgebaute "lille lille staden", das in Miniaturform nachgebaute Vimmerby aus Lindgrens Kindheit. "Das Tollste hier ist, dass man überall hinein darf! Und dass man die Pippi umarmen kann!" Hier gehen Schauspieler über die Grenzen ihrer Rolle hinaus. Die Bühne endet nicht beim Gartenzaun. "Astrid Lindgrens Welt" hat sich einem tieferen und radikaleren Hineingehen in die Illusion verschrieben, als es sonst üblich ist - also ganz so, wie es zur Autorin passt. Denn es geht ja weniger um eine Illusion, als vielmehr um eine Utopie: darum, die Nähe zum phantasievollen, anarchischen, gegen Ungerechtigkeit aufbegehrenden Kind auch in sich selbst nicht zu verlieren.
Astrid Lindgren, die eine frühe Gegnerin der Nazis war, die sich vehement nicht nur für Kinderrechte einsetzte, hat diesen Zusammenhang belegt. Oder wie es der langjährige Manager des Parks, Nils-Magnus Angantyr, sagt: "Immer wieder gibt es in Schweden Momente, in denen man sie schmerzlich vermisst - etwa wenn einem Kind etwas Skandalöses zustößt. Dann wünschte man sich, Astrid Lindgren wäre da, die Stellung nimmt und Konsequenzen fordert."
Bernadette Conrad, geboren 1963, lebt als Journalistin in Konstanz und schreibt Literatur-, Theaterkritiken und Reisereportagen.