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Gnadenlose Aussiedelung

Von Niklas Perzi

Wissen

1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, jagte die wieder gegründete Tschechoslowakei ihre deutschen Bewohner aus dem Land - unter teils unmenschlichen Begleitumständen.


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Altstadt (Staré Město), 13. Mai 1945, fünf Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Marktplatz dieses südböhmischen, unweit der österreichischen Grenze gelegenen Ortes ist voll von Menschen. In der Mitte stehen einige Männer in Uniform, hoch zu Ross verliest ein Uniformierter die Proklamation von der Wiedereingliederung des Sudetenlandes in die Tschechoslowakei. Der Mann ist Tscheche, seine Zuhörer sprechen nur deutsch. Einige von ihnen klatschen in die Hände, andere rufen "Bravo". Da bricht es aus dem Mann hervor: "Ihr deutschen Schweine, vor ein paar Tagen habt Ihr noch Heil Hitler geschrien, jetzt wollt Ihr hier Bravo rufen!"

Das ist ein Moment, in dem sich die Dramatik von Geschichte fokussiert. Der Proklamateur hatte 1938, nach dem Einmarsch der Wehrmacht, den Ort verlassen müssen, begleitet von Schmährufen und Prügeln vieler deutscher Mitbewohner, und war jetzt gekommen, um sich zu rächen.

Willkür und Gewalt

Nur zwei Wochen nach dem Auftritt am Platz werden die deutschen Altstädter über die Grenze nach Österreich getrieben. Die meisten jungen Männer sind entweder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, so trifft es vor allem Ältere, Frauen und Kinder. Wer nicht mehr mitkommt, wird liegen gelassen. An der Grenze wird das in aller Eile eingepackte Hab und Gut perlustriert; Schmuck, Wertgegenstände, aber auch Spielzeug werden abgenommen und die Menschen dann ihrem Schicksal überlassen. Sechs Männer (darunter die Ortsfunktionäre der NSDAP) werden zurückgehalten und später, nach grausamen Folterszenen, ohne Gerichtsurteil erschossen. Das deutsche Altstadt war innerhalb weniger Stunden Geschichte geworden.

Was in den tschechischen Sprachgebrauch mit einem Terminus aus der altösterreichischen Behördensprache als odsun, "Abschub", bezeichnet, und im Deutschen meist "Vertreibung" genannt wird, war eine der größten "ethnischen Säuberungen" im Nachkriegseuropa, wenn auch bei weitem nicht die einzige. Innerhalb eines Jahres mussten an die drei Millionen Einwohner deutscher Muttersprache die wieder errichtete Tschechoslowakei verlassen. Etwa 800.000 davon traf wie in Altstadt das Schicksal der "wilden Vertreibung": Sie wurden innerhalb weniger Stunden mit 30 Kilogramm Gepäck aus ihren Häusern und Höfen über die Grenze nach Österreich oder in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands gejagt, ohne Rechtsgrundlage und oft unter grausamen Begleitumständen.

Die Zahl der Todesopfer im Rahmen von Vertreibung und "revolutionärer Gerechtigkeit" ist bis heute ungeklärt - und wird es wohl auch bleiben. Während Vertriebenenverbände von 240.000 Toten sprechen, schätzen deutsche und tschechische Historiker die Zahl auf 30.000. Tatsache ist, dass die ersten Monate nach dem Ende des NS-Regimes von einer Reihe von Gewalttaten begleitet waren. Im nordböhmischen Pos-telberg (Postoloprty) etwa waren es 763 Hingerichtete, das Massaker in Aussig (Ustí nad Labem), forderte an die 100 Tote, infolge der Fußmärsche aus den Sprachinseln von Brünn (Brno) und Iglau (Ihlava) über mehr als fünfzig Kilometer zur österreichischen Grenze kamen etwa 2000 Menschen ums Leben.

Die Aussiedlung war der letzte Akt im fast 700-jährigen Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in den historischen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen eines mit zunehmend weniger Empathie für den jeweils anderen ausgetragenen "Volkstumskampfes" stand. Sie war aber auch Teil der neuen europäischen Nachkriegsordnung und Folge der nationalsozialistischen Herrschaft über Zentral- und Osteuropa, die bekanntlich erst nach einem grausamen Krieg gestürzt hatte werden können.

Ein Blick zurück

Nach dem Zerfall der großen Imperien infolge des Ersten Weltkrieges verstanden sich die neu gebildeten Länder zwischen Deutschland und der Sowjetunion als Nationalstaaten, hatten jedoch auf ihren Gebieten so starke Minderheiten, dass sich Anspruch und Realität nicht deckten. Dies galt besonders für die Tschechoslowakei, die als Vereinigung zwischen den alten böhmischen Ländern und der Ungarn entrissenen Slowakei ein völlig neuartiges Geschöpf darstellte. Neben sechs Millionen Tschechen und knapp zwei Millionen Slowaken wohnten in ihren Grenzen fast 3,5 Millionen (Sudeten-)Deutsche, die zwar die völlige bürgerliche Gleichberechtigung und einigermaßen (in den Pariser Vorortverträgen garantierte) brauchbare Minderheitenrechte genossen, jedoch nicht als Teil der neuen tschechoslowakischen Staatsnation galten.

Als in den 1930er Jahren die Weltwirtschaftskrise auf die Tschechoslowakei überschwappte, waren es die hochindustrialisierten Regionen in Nord- und Westböhmen, die davon besonders betroffen waren - samt Hungersnöten und Toten. Prag reagierte nicht und trieb so die Deutschen in die Hände des Konrad Henlein. Dieser Funktionär des Deutschen Turnverbands hatte als Exponent des unter den böhmischen Deutschen traditionell starken deutschnationalen, "völkischen" Milieus 1933 die "Sudetendeutsche Heimatfront" (später Sudetendeutsche Partei, SdP) gegründet und 1935 bei den Parlamentswahlen 70 Prozent der deutschen Stimmen gewonnen.

Die staatstreuen Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Agrarier wurden marginalisiert. Die SdP geriet bald in das Fahrwasser Hitler-Deutschlands - mochte auch Henlein Autonomie gefordert haben - und spielte damit eine ähnliche Rolle wie die illegalen Nationalsozialisten in Österreich. Das im Herbst 1938 gebildete "Sudetendeutsche Freikorps" überfiel Zollhäuser und terrorisierte deutsche und tschechische Nazi-Gegner, während Hitler wie im Falle Österreichs mit militärischer Gewalt drohte.

Der tschechoslowakische Präsident Edvard Bene (einer der Staatsgründer von 1918) gab dem Druck nach, nachdem die Verbündeten der Jahre davor, Franzosen wie Engländer, ihr ehemaliges Lieblingsgeschöpf fallen ließen. Die Sudetengebiete wurden Teil des Deutschen Reichs, Hitler von den meisten Sudetendeutschen als Befreier vom "tschechischen Joch" frenetisch gefeiert. Die deutschen Altstädter kamen am 26. Oktober 1938 in die nahe Kleinstadt Zlabings (Slavonice), um den "Führer" zu begrüßen, während sich der tschechische Lehrer mit einem in die Chronik geschriebenen "Es ist vollbracht" aus dem Ort verabschiedete.

Beneš im Exil

Der von Freund und Feind nunmehr gleichermaßen verschmähte Bene wurde in seinem britischen Exil erst wieder aktiv, als Hitler im März 1939 auch die tschechischen Gebiete besetzte und zum "Protektorat Böhmen und Mähren" machte. Bene sah den Minderheitenschutz als gescheitert an, seinen Landsleuten galten die Sudetendeutschen als Verräter am Staat und Verursacher des nationalen Unglücks.

In der Nachkriegs-Tschechoslowakei sollte die Zahl der Deutschen daher wesentlich verringert werden. Bene setzte vorerst auf eine Mischung aus Aussiedelungen und Gebietsabtretungen an Deutschland, und griff dabei auf Pläne tschechischer Nationalisten aus dem 19. Jahrhundert zurück. Inzwischen betrieb Hitler-Deutschland "ethnic cleansing": Die böhmischen und mährischen Juden und Roma wurden ermordet, die Tschechen sollten nach dem Krieg zum Teil eingedeutscht, zum Teil ausgesiedelt werden. Aber auch die deutschen "Volkssplitter" wurden von den NS-Machthabern "heim ins Reich" gerufen.

Britische Think Tanks und Politiker werkten an Lösungen für das Problem der (deutschen) Minderheiten im Nachkriegseuropa. "Reiner Tisch wird gemacht werden", erklärte der britische Premier Winston Churchill, der für eine möglichst umfassende Aussiedelung der Deutschen plädierte, um eine neue deutsche Irredenta zu verhindern. Stalins Sowjetunion hatte bereits in den Jahren davor praktische Erfahrungen im Verschieben ganzer Völker gemacht und sah in der ethnischen Homogenisierung einen Zwischenschritt hin zur sozialen. Auf diese Linie sprangen die eigentlich übernational organisierten tschechischen Kommunisten erst spät, aber dafür umso radikaler auf und ließen ihre zahlreichen deutschen Genossen fallen.

Zu Kriegsende hatte die tschechoslowakische Repräsentanz mitsamt dem wieder nach Prag zurückgekehrten Präsidenten Bene noch keine endgültige Zusage der Alliierten zur geplanten Aussiedelungsaktion. Es kam ihr daher darauf an, "vieles gleich allein in den ersten Tagen zu erledigen", wie es der Präsident ausdrückte. Als ausführende Organe dienten - wie so oft, wenn es in Konflikten darum geht, die Schmutzarbeit zu leisten - zusammengewürfelte Einheiten meist blutjunger Männer; daneben die aus dem Osten ins Land einmarschierende tschechoslowakische Exilarmee des Generals Ludvík Svoboda (des späteren Staatspräsidenten des "Prager Frühlings").

Mit der Verkündung der Präsidial- oder Benedekrete verloren die Deutschen alle nationalen bürgerlichen Rechte, ihr gesamtes Eigentum, mussten zur Kennzeichnung weiße Armbinden tragen und waren gleichsam vogelfrei geworden. Im deutschen Grenzland sollte eine völlig neue Ordnung entstehen, ein Laboratorium der von der tschechoslowakischen Politik proklamierten nationalen und sozialen Revolution mit dem Eigentum der Deutschen als Umverteilungsmasse.

Alliierte Mitwirkung

Die Alliierten verlangten bei ihrer Konferenz in Potsdam im August 1945 die Einstellung der wilden Vertreibung, stimmten aber dem Bevölkerungstransfer zu. Im Rahmen der "organisierten Aussiedelung" wurden so mehr als zwei Millionen Menschen in Eisenbahntransporten in das besetzte Deutschland verbracht. Dieses Schicksal erlitt auf Betreiben der Alliierten und der österreichischen Politik auch die Mehrzahl der im Zuge der wilden Vertreibung nach Österreich gekommen Sudetendeutschen, nur etwa 114.000 (von 360.000) wurden allmählich im Land integriert.

Die größten Profiteure der ethnischen Homogenisierung in der Tschechoslowakei waren die Kommunisten, die bei den Parlamentswahlen 1946 in den ehemals deutschen Gebieten zum Teil 90-Prozent-Ergebnisse einfahren konnten. Im Februar 1948 ergriffen sie in Prag die totale Macht. Ein Resultat war die Errichtung einer Grenzzone und die völlige Zerstörung mehrerer hundert ehemals deutscher Ansiedelungen. "Der Kommunismus", so der anglo-tschechische Historiker Zbyněk Zeman, "ist in die Tschechoslowakei auf dem Rücken des Nationalstaates eingeritten und der tschechoslowakischen Indus-trie und Landwirtschaft hat der Friede mehr Schaden bereitet als der Krieg."

Niklas Perziist Historiker am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichteforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und am Zentrum für Migrationsforschung (ZMF) in St.Pölten.