+++ Proteste gegen brutale Rituale der Demütigung. | Verteidigungsminister Iwanow ordnet Untersuchung an. | Moskau/Wien. Neujahrsnacht zum 1. Jänner 2006, Panzerschule Tscheljabinsk, Sibirien: Der 19-jährige Rekrut Andrey Sytschow verharrt seit drei Stunden gefesselt in gehockter Haltung, während er in regelmäßigen Abständen von einem alkoholisierten Vorgesetzten Schläge erhält. Durch die unnatürliche Haltung staut sich Blut in den Beinen, Sytschow, der vor Schmerzen schreit und offensichtlich verletzt ist, wird nicht ins Spital gebracht. Das geschieht erst, als es zu spät ist. Beide Beine und die Genitalien des Soldaten müssen infolge einer Blutvergiftung amputiert werden.
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Die russische Armeeführung versucht wie üblich, den Vorfall zu vertuschen. Als Verteidigungsminister Sergej Iwanow mit Vorwürfen konfrontiert wird, weist er die Angelegenheit als "nicht ernst" zurück. Doch in der Öffentlichkeit haben sich Angst und Wut über die Zustände in der Armee breit gemacht. Zunächst kommt es zu Protesten in Jekaterinenburg, am vergangenen Samstag versammeln sich rund 200 Menschen vor dem Moskauer Verteidigungsministerium. Die Demonstranten fordern Konsequenzen für die Armeeführung und den Rücktritt von Verteidigungsminister Sergej Iwanow.
Der reagiert umgehend und lässt die Angelegenheit untersuchen. Gegen zwölf Soldaten wird ein Strafverfahren eingeleitet, der Kommandant der Panzerschule - er hat den Vorfall wochenlang verheimlicht - von seinem Posten entfernt. Die Panzerschule Tscheljabinsk soll aufgelöst werden. Allerdings soll dies nicht mit dem Vorfall in der Neujahrsnacht zusammenhängen, sondern Teil einer umfassenden Militärreform sein, die Präsident Putin derzeit ausarbeiten lässt.
Angeschlagene Armee
Dass die Zustände in der Nachfolgeorganisation der einst stolzen Roten Armee katastrophal sind, ist nicht erst seit dem letzten Vorfall ein offenes Geheimnis. Bekannt ist, dass Mannschaften und selbst höhere Offiziere oft Monate auf ihren Sold warten und sich durch kriminelle Nebengeschäfte über Wasser halten müssen. Bekannt sind auch die katastrophalen Folgen des in Russland grassierenden Alkoholmissbrauchs auf die Verbrechensstatistik. Beispiele dafür, wie unzählige Morde aussehen, die in Russland im Suff begangen werden, liefert das Buch "Ich flehe um Hinrichtung", von Anatoli Pristawkin.
Wissenschaftlich ziemlich genau untersucht ist jedenfalls der Umstand, dass das, was Andrey Sytschow in Tscheljabinsk widerfahren ist, kein Einzelfall, sondern Teil eines seit langem perfekt funktionierenden Systems ist.
"Djedowtschina" (übersetzt in etwa "Herrschaft der Großväter") heißt die Methode, die dem zaristischen Russland so bekannt war wie sie heute unter Wladimir Putin üblich ist. Es handelt sich dabei um ausgeklügelte Rituale, die unter anderem von der Anthropologin Hana Cervinkova untersucht worden sind. Die Stellung einer Person in dieser Hierarchie ist ausschließlich davon bestimmt, wie lange der Soldat bereits gedient hat. Der soziale Status im Zivilleben ist völlig ohne Bedeutung.
Ausschlaggebend ist vielmehr, dass ein Rekrut eine Reihe von Demütigungen und Misshandlungen übersteht. Hat ein Soldat das erste Jahr seiner zweijährigen Dienstzeit überstanden, wird er von den Dienstälteren traktiert, wobei ihm Tätigkeiten zugewiesen werden, die gemeinhin als weiblich gelten. Damit Verbunden sind, so Cervinkova, mehr oder weniger deutlich ausgelebte Vergewaltigungs-Phantasien. Nach dieser Prozedur ist der Misshandelte berechtigt, seinerseits die neu eintretenden Rekruten zu demütigen.
Die Schikanen enden nicht selten mit dem Tod des Opfers: Erst vor zwei Wochen verurteilte ein russisches Militärgericht einen Soldaten zu sieben Jahren Lagerhaft, weil dieser einen Dienstjüngeren einfach erschlagen hat. Motiv: Der Neuling hatte sich geweigert, die Socken des Längergedienten zu waschen. Nach Schätzungen des Komitees der Soldatenmütter fallen in Russland jährlich mehr als 3000 Wehrpflichtige "Djedowtschina" zum Opfer. Sie werden in den Selbstmord getrieben, getötet, oder haben ein Leben lang physisch an den Folgen der Misshandlungen zu leiden.