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Dietmar Gnedt begibt sich auf eine romanhafte Suche nach einem Soldaten.
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Gestorben ist der Kriegsgefangene Domenico Minetti am 24. April 1918. Sein Grabstein steht in Niederösterreich, bei Wieselburg, wo sich während des Ersten Weltkriegs ein Gefangenenlager befand. So viel steht fest. Aber der Autor Dietmar Gnedt weiß mehr über jenen Domenico Minetti, und er hat sein Wissen in einem Roman verarbeitet.
Es hat einen guten Grund, dass Gnedt die Romanform gewählt hat. Denn tatsächlich sind sehr wenig gesicherte Fakten über den unbekannten italienischen Soldaten zu eruieren. Wo aber die historischen Quellen versiegen, beginnt die Imagination zu sprudeln - deshalb gibt es so viele historische Romane.
Gnedt erzählt also folgende Geschichte über Minetti: Er wurde 1891 im oberitalienischen Bassano Veneto geboren, das heute Bassano del Grappa heißt. Er war der Sohn eines gutsituierten Geschäftsmannes, fühlte in sich jedoch die Neigung zum Priesterberuf. Kurz vor der Weihe begegnete er der schönen Lina Bizzenti, die aus dem Ort Pieve Tesino, der zu k.u.k. Österreich gehörte, nach Bassano auf den Jahrmarkt kam. Die beiden hatten zunächst ein heimliches Verhältnis, als Lina jedoch schwanger wurde, verzichtete Domenico auf seinen geistlichen Stand und heiratete die zwei Jahre jüngere Frau. 1912 kam beider Sohn Vincenzo zur Welt.
Gnedt beschreibt das Leben dieser Familie als ungetrübtes Idyll, zu dem auch Domenicos Freund Lazzaro beiträgt, der dem Priestertum treu geblieben ist. Diese glückliche Zeit endet 1915: Italien erklärt Österreich-Ungarn den Krieg, Domenico wird Soldat. Er ist fest entschlossen, seinen pazifistischen und menschenfreundlichen Ideen treu zu bleiben, doch das gelingt ihm nicht. Im September 1915 fallen österreichische Bomben auf Bassano, Domenicos Eltern werden getötet, seine Frau flieht mit dem Kind über die Grenze in ihre alte Heimat, geht aber unterwegs unter traumatischen Umständen (die genau beschrieben werden) verloren. Der kleine Vincenzo wird als Waisenkind nach Wien gebracht, wo er unter dem Namen Vinzenz Köhlhauser aufwächst.
Als Domenico durch einen Brief seines Freundes Lazzaro vom Tod der Eltern und dem Verschwinden seiner Familie erfährt, ist seine Menschenliebe tief erschüttert: Er tötet einen österreichischen Soldaten und empfindet Befriedigung bei diesem Racheakt. Später wird er wieder versöhnlicher denken. In der Gefangenschaft begegnet er einer jungen Österreicherin, die ihm Hoffnung auf ein besseres Leben gibt - doch kommt diese neue Liebe zu spät. Minetti stirbt ein halbes Jahr vor Kriegsende an Tuberkulose.
So lässt sich der Lebenslauf zusammenfassen, der in Gnedts Roman allerdings nicht geradlinig erzählt wird. Der Autor bettet diese alte Geschichte vielmehr in eine zeitgenössische Handlung ein. Der eigentliche Motor des Geschehens ist nämlich die Suche nach Domenico Minettis Lebenszeugnissen. Der Roman beginnt damit, dass ein tüchtiger junger Mann namens Karl von Rößnitz seinen neuen Job antritt. Er wurde von einem Milliardär angestellt, um ein Gestüt aufzubauen. Zu diesem Zweck muss zuerst ein Haus geräumt werden. Es war einstmals das Verwalterhaus des Gefangenenlagers Wieselburg, steht aber jetzt der Expansion des eleganten Gestüts im Weg. Es ist schon weitgehend entmietet, nur eine einzige Dame weigert sich, ihre Wohnung zu verlassen.
Karl von Rößnitz versucht, mit ihr eine gütliche Einigung zu verhandeln. Doch misslingt dieses Vorhaben gründlich, denn Karl ist sofort fasziniert von dieser schönen Frau, die wesentlich älter ist als er: Wie sich in längeren Gesprächen herausstellt, ist sie die Tochter des nach Wien verschleppten Vinzenzo Minetti oder Vinzenz Köhlhauser. Sie weiß, dass in dem Verwalterhaus der schriftliche Nachlass ihres Großvaters versteckt ist, und sie kann die Wohnung nicht verlassen, bevor sie dieses Konvolut nicht gefunden hat. Der junge Manager hilft ihr bei der Suche, gemeinsam finden sie ein Päckchen mit Domenicos Tagebüchern. Sie sind im Roman komplett nachzulesen.
Karl verliert durch diese Ak- tion seinen Job, gewinnt aber eine neue Freundin und eine sinnvolle Lebensperspektive. Und Minettis Enkelin findet ihren Frieden, verlässt das Gefangenenhaus und übersiedelt in ihre wahre Heimat, nach Bassano. So entdecken die Vergangenheitssucher in den vergilbten Nachlässen von einst die ungelebten Möglichkeiten der Verstorbenen und bauen sich daraus eine neue, bessere Existenz. Diese optimistische Botschaft lässt sich aus Gnedts anregendem historischem Gedankenspiel wohl herauslesen.
Dietmar Gnedt: Der Nachlass Domenico Minettis. Roman, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2014, 159 Seiten, 19,95 Euro.