Bald stimmen die Briten über Verbleib oder Ausscheiden aus der EU ab. Die wichtigsten Fakten im Überblick.
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Wien/London. In weniger als vier Wochen werden die Briten über den Austritt aus der EU abstimmen. Sollte das Referendum aus Sicht der Europa-Befürworter schiefgehen, wird in Großbritannien kein Stein auf dem anderen bleiben. So müsste Tory-Premier David Cameron wohl unmittelbar zurücktreten. Er macht sich vehement für einen Verbleib seiner Heimat in der EU stark, zieht alle Register und wagt sich weit nach vorne. Zuletzt meinte er in einem Interview, ihm wäre sogar eine Labour-Regierung recht, wenn Großbritannien dafür in der EU bliebe. Eine Regierung könne man in fünf Jahren auswechseln, der Brexit aber sei eine Entscheidung für die Ewigkeit. Eine unerhörte Provokation in den Ohren vieler Konservativer. Innerparteilich hat sich mit dem ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson bereits ein prominenter Tory als Konkurrent um das Amt des Premiers in Stellung gebracht. Und mehr als das: Bei den Konservativen gärt es, zwei Abgeordnete fordern den Rücktritt Camerons und Neuwahlen vor Weihnachten. Der Riss geht mitten durch die Partei.
Die Abstimmung ist aber vor allem aber die größte potenzielle Gefahr für den Gedanken eines geeinten Europas.
Hier nun Fragen und Antworten zum Referendum:
1 Wer ist für einen Brexit, wer dagegen?
Etwa die Hälfte aller Tory-Abgeordneten wollen ein Großbritannien, das sich künftig seinen Weg selbst bahnt. Besonders eifrig für den Brexit werben regionale konservative Funktionäre. Dazu kommt Ukip, die UK Independence Party unter Nigel Farage, die innenpolitisch zwar kaum eine Rolle spielt, bei den EU-Wahlen aber sehr stark abschnitt. Unter den Wirtschaftswissenschaftern gibt es eine kleinere Minderheit, die in einem Brexit ökonomische Vorteile sieht. Nicht zu vernachlässigen sind die berüchtigten britischen Boulevard-Medien. Blätter wie "Daily Mail" machen eifrig Stimmung gegen die EU. Die "Sun" veröffentlichte sogar einen Artikel, wonach die Queen höchstselbst einen Brexit favorisiere. Ein klarer Tabubruch, da die englische Königin prinzipiell zu aktuellen politischen Fragen nicht Stellung bezieht. Gegen den Austritt ist eine Mehrheit der britischen Prominenz - Schauspieler, Pop-Stars und Society-Größen und der Großteil der britischen Regierung. Cameron hat es seinen Ministern freigestellt, ob sie sich für oder gegen einen Brexit aussprechen. Der Premier wird außerdem von einem Großteil der Labour-Abgeordneten, der Liberalen und der Scottish National Party (SNP) unterstützt. Zuspruch erhält Cameron auch aus dem Ausland, etwa von US-Präsident Barack Obama.
2 Was sind die Argumente der Brexit-Befürworter?
Den Befürwortern eines Austritts ist vor allem Brüssel ein Dorn im Auge. Man will sich von einer als Moloch empfundenen Bürokratie nicht bevormunden lassen und sieht sich der Regulierungs-Wut hilflos ausgeliefert. Auch bekritteln viele ein Demokratie-Defizit der EU. Viele ältere Menschen in Großbritannien sehnen die vergangenen Zeiten herbei, als Britannien wirklich "groß" war. Winston Churchill gilt hier immer noch als die überragende politische Figur, seines Sieges gegen Hitler-Deutschland wird tatsächlich bei vielen Anlässen gedacht. Heute freilich ist Deutschland die tonangebende Macht in Europa. Viele Brexit-Befürworter haben das Gefühl, sie müssten nach der deutschen Pfeife tanzen. Das tut dem Nationalstolz weh. Beobachter führen ins Treffen, dass sich die Brexit-Befürworter eher aus dem Lager der sogenannten Modernisierungsverlierer rekrutieren. Sie wünschen eine Politik der Abschottung. Ganz wichtig ist hier die aktuelle Flüchtlings-Problematik. Der Europäischen Union wird hier nicht zugetraut, die Flüchtlinge, die als Bedrohung wahrgenommen werden, wirkungsvoll abzuhalten. Dazu kommt noch die Gruppe der Neoliberalen, für die die EU überreguliert ist und die das Land den "freien Marktkräften" überlassen wollen.
3 . . . und die Argumente der Brexit-Gegner?
Hier weist man darauf hin, dass es ein starkes Großbritannien nur innerhalb der Europäischen Union geben kann. Vor allem wird auf den immensen wirtschaftlichen Schaden aufmerksam gemacht, den ein solcher Austritt langfristig hätte. Rund 45 Prozent der britischen Exporte gingen in die EU, drei Millionen Stellen hingen vom Binnenhandel ab, wird argumentiert. Es sei ein Rückgang des BIP um bis zu 2,2 Prozent bis zum Jahr 2030 zu erwarten. Außerdem mahnen die Brexit-Gegner, dass Großbritannien global zur Bedeutungslosigkeit verkommen werde, wenn es die EU verlasse. Die EU-Befürworter sagen auch, dass die meisten Zuwanderer Streuern zahlen und die Wirtschaft stärken.
4 Wo sind die Briten jetzt schon überall nicht dabei?
Cameron hat zuletzt für die Euro-Skeptiker einige "Zuckerln" ausverhandelt. So bekommen EU-Bürger, die in Großbritannien arbeiten, deren Kinder aber in der Heimat geblieben sind, geringere Sozialleistungen. Und Großbritannien hat sich das Recht gesichert, bei jedem Schritt, der zu einer engeren politischen Zusammenarbeit innerhalb der EU führt, außen vor bleiben zu dürfen. Außerdem ist Großbritannien weder Mitglied der Euro-Zone noch Mitglied der Schengen-Zone, es gelten jetzt schon "Opt-out"-Regelungen in den Bereichen Justiz und Inneres. So hat die EU-Grundrechtscharta keine bindende Wirkung. Die Linie hat schon Baroness Margaret Thatcher vorgegeben, als sie 1984 mit den Worten "I want my money back" den Briten-Rabatt im Bereich Agrarzahlungen einforderte, bekam und erfolgreich verteidigen konnte.
5 Was sind die Gründe für die traditionelle Euroskepsis der Briten?
Linksverkehr auf den Straßen, Sperrstunde in den Pubs um 23 Uhr, die eisern eingehalten wird, endlose Reihen von Redbrick-Einfamilienhäusern: Wer einmal in England war, weiß, dass die Uhren hier anders ticken. Wenn die Briten von "Europe" sprechen, meinen sie alle Länder des Kontinents außer sich selbst. Historisch gesehen sind die Briten einigem Unheil entkommen, weil sich der Ärmelkanal als effektives Hindernis erwies. Man hielt sich aus Zwistigkeiten und Kriegen der europäischen Herrscherhäuser heraus, baute die weltweite Vormachtstellung aus und griff ein, wenn es opportun erschien. Nazi-Deutschland konnte 1940 zwar die Kanalinseln erobern, eine Invasion mit Bodentruppen gelang aber nicht, und in der Luft konnten die Briten nicht besiegt werden.
6 Wie würden im Fall eines Brexit die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen für Österreich aussehen?
Österreich wäre von einem Austritt weniger betroffen, sagen Experten. Sie rechnen mit einer um 0,05 bis 0,18 Prozent geringeren Wirtschaftsleistung bis 2030. Das Vereinigte Königreich ist Österreichs achtwichtigster Zielmarkt. Österreichs Direktinvestitionen liegen bei 6,4 Milliarden Euro. Umgekehrt machen die britischen Direktinvestitionen in Österreich 4,5 Milliarden Euro aus.
7 Was könnten die langfristigen Folgen eines Brexit für Großbritannien und für Europa sein?
Wenn mit Großbritannien die nach Deutschland zweitgrößte Volkswirtschaft die EU verlässt, wäre die Gemeinschaft massiv geschwächt. Die Handlungsfähigkeit der Union wäre stark eingeschränkt. Es würde auch der Einfluss auf der globalen politischen Bühne schwinden. Viele Experten befürchten, dass ein britisches Ausscheiden einen Domino-Effekt auslösen könnte: dass also andere euro-skeptische Nationen wie Polen oder Ungarn folgen. Was Großbritannien selbst betrifft, hält die große Mehrheit führender Volkswirte einen schweren Schaden für die Wirtschaft für wahrscheinlich. Eine Mehrheit geht auch davon aus, dass es negative Auswirkungen für die Privathaushalte geben würde.
8 Was sagen die Meinungsumfragen?
Nachdem die Demoskopen bei den britischen Parlamentswahlen im Mai 2015 komplett danebenlagen (sie weissagten, dass niemand klar gewinnen würde, dann siegten die Tories mit absoluter Mehrheit), stoßen die aktuellen Umfrageergebnisse auf allergrößte Skepsis. Zuletzt mehren sich die Umfragen, wonach die Brexit-Gegner vorne liegen. Die Ergebnisse fallen allerdings völlig unterschiedlich aus - je nachdem, ob per Telefon oder online gefragt wird. Dazu kommt, dass die Zahl der Unentschlossenen und damit die Ungewissheit statt kleiner immer größer wird. Die Briten werden von Brexit-Gegnern wie Befürwortern seit Tagen mit Informationen regelrecht bombardiert. Viele haben das Gefühl verloren, was nun stimmt und was nicht.
9 Wann werden wir wissen, ob die Briten die EU verlassen oder nicht?
Die Wahllokale schließen am Donnerstag den 23. Juni um
22 Uhr Ortszeit. Unmittelbar darauf werden sogenannte Exit-Polls veröffentlicht, von denen man sich einen ersten zuverlässigen Trend erhofft.