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"Godot kommt nie"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Blutige Auseinandersetzung um die Regierungsbildung im Irak. Die Stimmung ist zum Zerreißen gespannt.


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Es ist warten auf Godot", kommentiert Alia Talib die momentane Situation in Bagdad. Die Journalistin und Chefredakteurin des Monatsmagazins "Bagdadi" sitzt zu Hause und wartet, wie sich die Dinge entwickeln. Seit Montag herrscht Ausgangssperre, bis auf weiteres. Keine Autos, keine Menschen auf der Straße. Nur zum Einkaufen darf man rausgehen. "Die Regierung ist weg", hat die 64-jährige Irakerin erfahren: "Alle sind abgehauen." Milizen dominieren das Straßenbild.

"Es herrscht eine explosive und gefährliche Stimmung", sagt Talib am Telefon. Nach tagelangen Spannungen zwischen verfeindeten schiitischen Kräften hat sich die Lage zugespitzt. Anhänger des Predigers Moktada al-Sadr haben das Regierungsviertel in Bagdad gestürmt, die Mauern des Präsidentenpalastes überwunden und den Amtssitz des Premierministers besetzt. Sicherheitskräfte schritten ein, schossen scharf, töteten 15 Demonstranten. Bis zu 200 Menschen sollen verletzt worden sein. Dass die Auseinandersetzung um die Regierungsbildung blutige Auswirkungen haben wird, war befürchtet worden. Hoffnungen, dass dies vermieden werden kann, haben sich zerschlagen.

Dem vorausgegangen war die Ankündigung al-Sadrs, sich gänzlich aus der Politik zurückzuziehen, alle mit seinem Namen und seiner Familie verbundenen Institutionen zu schließen. Kurze Zeit später wurde das Regierungsviertel gestürmt, zunächst von Sadrs Anhängern, später aber auch von anderen, deren Hoffnungsträger er seit den Parlamentswahlen im Oktober 2021 geworden ist. "Das ist keine Sadristen-Bewegung", war von einigen Protestierenden zu hören, "sondern die Fortsetzung der Revolution des Volkes."

"Irak den Irakern"

Und tatsächlich hat das, was gerade in Bagdad geschieht, mit den Massenprotesten rund um den Tahrir-Platz vor drei Jahren zu tun, als tausende Bürger in Bagdad, Millionen Menschen im ganzen Land gegen die herrschenden Politiker auf die Straße gingen und einen Regimewechsel forderten. Moktada al-Sadr, Populist der ersten Stunde, setzte sich an die Spitze der Bewegung und machte sich deren Forderungen zu Eigen: "Irak den Irakern, ausländische Mächte raus; Schluss mit dem von den amerikanischen Besatzern eingeführten Proporz bei der Aufteilung der Macht; Bekämpfung der Korruption." Das Ergebnis der Wahlen im Oktober war entsprechend - al-Sadr gewann, erhielt aber nicht die notwendige Mehrheit, um allein zu regieren. Damit begann das Dilemma.

Seitdem versuchte der 48-Jährige alles, um eine Koalition in seinem Sinne zu etablieren. Vergebens. Die neu gewählten Parlamentarier haben bislang alles blockiert. Dabei sind es nicht nur die mit al-Sadr verfeindeten schiitischen Parteien, die dem Iran gehorchen und dessen Einfluss im Irak schwinden sehen, wenn eine Regierung gemäß dem Wahlergebnis gebildet wird. Es sind auch die Kurden, die am bestehenden System festhalten. Der Präsident Iraks ist seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 immer ein Kurde, der Premier ein Schiit und der Parlamentspräsident ein Sunnit gewesen. So soll es auch weiterhin sein, verlangt vor allem die kurdische Regionalregierung im Nordirak.

Die Familie Barzani, die die Autonomiegebiete dominiert, stellt sich gegen einen Präsidenten, der nicht aus ihren Reihen kommt. Die Verfassung des Irak schreibt vor, dass zunächst ein Parlamentspräsident gewählt werden müsse, was bereits geschehen ist, danach der Präsident, der dann einen potenziellen Premierminister zur Regierungsbildung aufruft.

Doppelte Blockade

Moktada al-Sadr hat demnach eine doppelte Blockade zu überwinden: hier der Präsident, um den sich die Kurden streiten, dort der Premier, um den sich die Schiiten streiten. Nach zehn Monaten erbittertem Ringen hat Sadr seinen Versuch aufgegeben, das politische System im Irak mit Hilfe des Parlaments zu verändern, und forderte Neuwahlen. Doch die Abgeordneten denken nicht daran, einer Auflösung des Parlaments zuzustimmen. Am Dienstag sollte ein Gericht darüber entscheiden. Aus gut informierten Kreisen in Bagdad hieß es, dass Moktada al-Sadr auch hier eine Absage kassiert hätte. Sein politischer Rückzug ist daher als Konsequenz daraus zu interpretieren.

Bereits im Juni hatte al-Sadr seine Abgeordneten aus dem Parlament abgezogen, um die Blockade zu durchbrechen. Jetzt werde die Straße weiter sprechen, sagte er damals. Als dann seine schiitischen Rivalen einen Premierminister der alten Garde aufstellen ließen, rief er seine Anhänger auf, das Parlamentsgebäude zu stürmen. Doch auch das nützte nicht viel. Die Sitzungen der Volksvertretung wurden zwar ausgesetzt, doch politisch bewegte sich nichts.

Zwei militante Lager

Daraufhin bildeten sich zwei militante Lager, die sich am Rande des Regierungsviertels tagelang feindlich gegenüber standen. Auf der einen Seite Moktada al-Sadrs Miliz Saraya Salam, auf der anderen die Schiitenmilizen der in den Wahlen unterlegenen Fatah-Partei und des Zusammenschlusses Iran treuer Kräfte um den ehemaligen Premierminister Nouri al-Maliki.

Es wurde ein gespenstisches Szenario, bei dem ein einziger Funke alles zum Explodieren bringen konnte. Manche sprachen gar von einem erneuten Bürgerkrieg in Bagdad, in dem die Konfliktlinien nicht zwischen Sunniten und Schiiten, sondern zwischen irantreuen Schiiten und irakpatriotischen Schiiten verliefen. "Wie wir von Samuel Beckett wissen, kommt Godot nie", seufzt die Journalistin Alia Talib in Bagdad. "Das hat der Irak nicht verdient."