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Golfspielen im Glasscherbenviertel

Von Klaus Stimeder

Reflexionen
Ganz normale Familien wohnen in der Bronx, die Häuser brennen hier nicht mehr.

Drogen, Gangs, Gewalt: Mit diesen Klischees hat die Bronx nicht mehr viel zu tun.


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New York. In der aktuellen US-Ausgabe des Monatsmagazins "Vanity Fair" findet sich ein Vorabdruck der soeben erschienenen Memoiren von James Wolcott ("Lucking Out"). Der verdiente Schriftsteller und Journalist war 1972 mit zarten 19 Jahren aus seiner Heimatstadt Baltimore nach New York City gekommen, um, bewaffnet mit einem Empfehlungsschreiben Norman Mailers, bei der damals renommierten Stadtzeitung "Village Voice" anzuheuern. Nach seiner Ankunft am Port Authority Bus Terminal, dem zentralen Busbahnhof Manhattans, schildert der damals Ortsfremde, wie ihm das alles überragende Empire State Building Orientierung und Halt gab; er ging zu Fuß, "weil ich das U-Bahn-System nicht kapierte und riesige Angst hatte, an dem Ort zu enden, an dem mein Kopf an einem Pfahl aufgespießt werden würde."

Er nennt den Namen des Ortes; es ist im ganzen Buch das einzige Mal, dass er vorkommt. Rund 30 Jahre später, in der selben Woche, in der Wolcotts Biografie erscheint, steht in der "Daily News", der größten Boulevardzeitung New Yorks, eine Geschichte über das "wirkliche Little Italy New Yorks", das "einzig wahre" italienische Einwandererviertel, das laut dem Autor der Story "fast unglaubliche kulinarische Genüsse zur Entdeckung bereithält". Vorausgesetzt, die Hobbygourmets unter den Lesern trauen sich hin. Denn Little Italy befindet sich inmitten dieses sagenumwobenen Ortes, der "nach wie vor unter seinem Bild in der Öffentlichkeit leidet."

Die Wiege des HipHop

Wenn es heute einen Stadtbezirk auf der Welt gibt, dessen Kampf gegen sein Image aussichtslos erscheint, dann ist es die Bronx. "Die Wahrnehmung der Bronx unterscheidet sich bis heute von allen anderen New Yorker Stadtbezirken. Manhattan ist die glamouröse City, wo die ganze Welt hinwill. Queens ist die Schlafstadt, in der zwar keine interessanten Dinge passieren, aber zumindest ist es dort friedlich. Das Gleiche gilt für Staten Island. Sogar Brooklyn gilt mittlerweile als hip. Und wir? In den Köpfen der Leute haben unsere Straßen nie aufgehört zu brennen."

Myrna Rivera ist eine streng gläubige Protestantin und ansonsten von ruhigem Gemüt. Wenn es aber um das Bild "ihres" Bezirks im Rest der USA wie in der Welt geht, ihrer Heimat, in der sie ihre zwei Töchter großgezogen hat, in der heute ihre Enkel leben, kann sie sauer werden. Richtig sauer: "Als ich in den Siebzigern und Achtzigern meine Kinder aufgezogen habe, habe ich ihnen verboten, nach Brooklyn zu fahren. Dort war es selbst zu den schlimmsten Zeiten noch schlimmer als hier." Die seit fünf Jahren pensionierte Sekretärin mag nicht einsehen, "warum die Leute von außerhalb immer noch Angst vor uns haben. Das ist doch lächerlich! Wissen Sie, wie viele Menschen hier leben?"

1,4 Millionen Einwohner sind es heute, die sich über 109 Quadratkilometer amerikanisches Festland verteilen, was ziemlich genau der Größe von Paris entspricht. Im Jahr 1639, als ein schwedischer Gelehrter namens Jonas Bronck den Lenape-Indianern ein Stück Land zwecks Bewirtschaftung abkaufte, waren es noch nicht einmal ein Dutzend Menschen. Nach Broncks Tod (er wurde nur 43 Jahre alt), benannten sie nicht nur den nahen Fluss, sondern gleich den ganzen im Entstehen begriffenen Bezirk nach ihm. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts erlebte die Bronx ihre Hochzeit: Iren, Deutsche, osteuropäische Juden und Italiener flüchteten in Massen Richtung Uptown, nachdem es in Manhattan schon bald zu eng geworden war. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs stellten Juden fast die Hälfte der Bevölkerung der Bronx, wovon bis heute zahlreiche am einstigen Prachtboulevard Grand Concourse stehende Synagogen zeugen. Die meisten sind freilich schon lange außer Betrieb. Nach 1945 wurden die Juden zunehmend marginalisiert, ab den Sechzigerjahren änderte sich die Demografie durch den Zuzug von Puerto Ricanern und vor allem von Afroamerikanern, die sich, ganz nebenbei, ab Mitte der Siebziger anschickten, einen neuen Musikstil zu kreieren, der von hier aus die Welt eroberte: HipHop.

Es geschah im Sommer 1977

Was die Menschen in der Bronx gestern wie heute zusammenhält und antreibt, hat die Rechtsanwältin und Autorin Pura De Jesus-Coniglio herauszufinden versucht. In einem Buch, das das bestehende Imageproblem der Bronx schon im Titel aufgreift ("The Bronx: Exposing its true DNA & Breaking the Stigma", Xulon Press), versucht sie anhand historisch verbriefter Fakten, empirischer Daten, qualitativer Interviews und teils recht origineller Erklärungsmuster nachzuweisen, wo der Hund begraben liegt: "Es war der Sommer von 1977, der das Bild der Bronx im Rest Amerikas geprägt hat. Was sich damals abgespielt hat, hat sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben, dass sich bis heute anscheinend nichts dagegen ausrichten lässt."

Im Grunde, meint Jesus-Coniglio, sei das Dilemma gar auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen, das im Laufe der Jahre eine derartige Strahlkraft entwickelte, die vollkommen überdeckte, dass die Dinge damals auch in den anderen Metropolen Amerika im Argen lagen. "Ladies and gentlemen, there you have it: The Bronx is burning." Diese ewigen Worte der Sportreporterlegende Howard Cosell, ausgesprochen live im Fernsehen während des zweiten Spiels des Finales um die Baseballmeisterschaft (World Series) angesichts eines brennenden Hauses gleich hinterm Stadion der New York Yankees, schien den Rest Amerikas in allen Vorurteilen zu bestätigen.

"Es steht zweifellos fest, dass die Bronx damals im Niedergang begriffen war, dass hunderte Hausbesitzer Feuerteufel anheuerten, um die Gebäude anzuzünden und anschließend die Versicherungssumme zu kassieren. Aber das betraf fast ausschließlich ihren südlichen Teil. Das Viertel Riverdale im Norden der Bronx etwa war schon damals einer der reichsten Bezirke New Yorks und ist es bis heute geblieben. Und die Mittelklasse beziehungsweise die ,working poor dominieren gestern wie heute den Rest", sagt Jonathan Mahler, Autor des nach dem Cosell’schen Zitat benannten Bestsellers (Untertitel: "Baseball, politics and the battle for the soul of a city", Verlag Farrar, Strauss & Giroud). Als Beleg führt Mahler eine Reihe von aus der Bronx stammenden Prominenten an, die in den vergangenen Jahrzehnten Furore machten: Die Liste reicht von Sonia Sotomayor, die als erste Latina auf der Bank des Obersten Gerichtshofs der USA landete, über Ex-Außenminister Colin Powell bis zu Jennifer Lopez, die freilich das Problem der Bronx personifiziert: Behütet aufgewachsen im grundsoliden Viertel Castle Hill, machte sie sich das Ghetto-Image der Bronx zu eigen und spielt "Jenny from the block".

Zum Leidwesen von Leuten wie Myrna Rivera, die gegenüber ihren Verwandten in Kalifornien und Florida "bis heute das Gefühl nicht loswird, mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich hier lebe." Beispiele für all das Gute, das die Bronx heute beherbergt, kann sie zuhauf nennen: ein rundes Dutzend der besten Schulen und Universitäten der USA, das flächenmäßig größte Naherholungsgebiet New York Citys (Pelhmam Bay Park), den größten Zoo der Vereinigten Staaten (Bronx Zoological Garden), das modernste Baseballstadion der Welt (der Neubau des 2009 eröffneten Yankee Stadium), einen ethnischen Mix, der seinesgleichen sucht, und, tatsächlich: massenhaft Golfplätze, die sich vornehmlich im Norden des Bezirks befinden, an der Grenze zum wohlhabenden Westchester County. Das Einzige, was heute in der Bronx brennt, sind nachts die Scheinwerferlichter der Autos, die auf den meistbefahrenen Expressways Amerikas unterwegs sind. Aber mit einem derart langweiligen Image lässt sich sogar in Amerika kein Geld verdienen.

Bronx, New York, Informationen auf Google MapsJames Wolcott's BlogJames Wolcott auf WikipediaWebsite Vanity Fair