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Inselregierung will Jahrhunderte alte Pfeifsprache retten. | Verständigung über Kilometer hinweg. | San Sebastián. (dpa) Bereits vor fast 600 Jahren berichteten zwei französische Missionare von einen merkwürdigen Stamm auf den Kanaren, "der nur mit den Lippen spricht". Gemeint waren die Ureinwohner des Archipels, die Guanchen, die sich schon lange vor der Ankunft der ersten spanischen Eroberer auf den gebirgigen Vulkaninseln über weite Entfernungen mit Hilfe von Pfiffen verständigten. Heute existiert die "El Silbo" genannte Pfeifsprache nur noch auf La Gomera. Und die Inselregierung hat sich vorgenommen, die in Zeiten des Mobiltelefons vom Aussterben bedrohte Tradition zu erhalten.
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So wurde "El Silbo" (Der Pfiff) als Pflichtfach an den Schulen der rund 20.000 Einwohner zählenden Insel eingeführt. "Allein in diesem Jahr werden etwa 600 Buben und Mädchen das Pfeifen erlernen", erläutert Eugenio Darias, der das Lehrprogramm als Dozent koordiniert. Einmal in der Woche steht neben Mathematik, Geschichte oder Geografie "El Silbo" auf dem Stundenplan. Prüfungen gibt es natürlich auch. "Zunächst müssen die Kinder verschiedene Töne treffen und später ihren Namen und ganze Sätze pfeifen können", sagt Darias.
Die Technik ist relativ einfach: Zeige- oder Mittelfinger werden im spitzen Winkel in den Mund gelegt, die Töne entstehen mit Hilfe der Zunge, wenn beim Ausstoßen der Luft die Lippen gleichzeitig gespitzt oder in die Breite gezogen werden. Die andere Hand dient als Schalltrichter. Schwierig ist es aber, den richtigen Ton zu treffen. Denn "El Silbo" besteht aus vier Konsonanten (ch, k, y, g) und zwei Vokalen (i und a), die in der passenden Tonlage richtig kombiniert werden müssen, um sich verständlich zu machen.
4000 Wörter möglich
Immerhin rund 4000 Wörter lassen sich mit der Pfeifsprache bilden. Wer dies beherrscht, kann sich über weite Entfernungen verständigen: Die Pfiffe erreichen eine Lautstärke von bis zu 100 Dezibel und sind somit noch in drei Kilometern zu hören - ein lauter Schrei schafft 400 Meter. Gepfiffen werden kann in fast jeder Sprache. "Auch auf Deutsch", wie Darias betont. Eine wichtige Voraussetzung gibt es jedoch: "Man muss noch alle Zähne im Mund haben."
Die Inselregierung in der Hauptstadt San Sebastián will nun einen Schritt weiter gehen. Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen sollen "El Silbo" lernen. Deshalb wurde die Einrichtung von speziellen Volkshochschulen beschlossen. Auch im Internet gibt es neuerdings Kurse, etwa bei der kostenlosen Sprachgemeinschaft busuu.
"Früher wurde die Tradition von den Alten an die Jungen vererbt, etwa unter den Hirten", weiß Isidro Ortiz. Der 75-Jährige hütete einst selbst Ziegen und lernte das Pfeifen von seinem Vater. Doch im vergangenen Jahrhundert wanderten viele "Gomeros" angesichts der wirtschaftlichen Not während des Bürgerkrieges (1936 bis 1939) und der Franco-Diktatur (1939 bis 1975) aus, vor allem nach Lateinamerika. Die "Silbo-Muttersprachler" gingen der Insel somit verloren, erzählt Ortiz, der heute einer der bekanntesten Lehrmeister auf La Gomera ist. Die Einführung des Telefons tat ein Übriges.
Wie Ortiz setzen sich die Insulaner außerdem nun dafür ein, dass die Pfeifsprache von der Unesco als "Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit" anerkannt wird. Auf der Kandidatenliste der Kultur- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen steht "El Silbo" bereits. Die Entscheidung wird für Mitte 2009 erwartet.
Die Ursprünge der Pfeifsprache sind indes unklar. Die meisten Experten gehen aber heute davon aus, dass "El Silbo" von Volksgruppen aus dem Atlas-Gebirge im heutigen Marokko stammt, die seinerzeit auf die Kanarischen Inseln übersiedelten.