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Zu einem einzigen Triumphzug wird der viertägige Staatsbesuch von Kremlchef Michail Gorbatschow in Deutschland. Der sowjetische Staats- und Regierungschef trifft vor 15 Jahren, am 12. Juni 1989, auf ein enormes Medieninteresse und spontane Sympathiekundgebungen der Bevölkerung. Mit Transparenten und "Gorbi, Gorbi"-Rufen wird der Politiker in der Bundesrepublik auf allen seinen Stationen begrüßt. Denn die Menschen spüren: Die Tage des Kalten Krieges sind gezählt, Europa befindet sich im Umbruch.
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Umjubelt war Gorbatschow im westlichen Ausland, in seiner Heimat hatte der Mann mit dem markanten Feuermal auf der Stirn mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Denn auch im vierten Jahr von Perestrojka und Glasnost war in der Sowjetunion kein Durchbruch in Sicht. Im Gegenteil: Das lang erhoffte Wirtschaftswachstum in der UdSSR wollte sich nicht einstellen. Und die ethnischen Konflikte innerhalb des Imperiums weiteten sich immer mehr aus.
Als am 3. Juni 1989 in Teheran Ayatollah Ruallah Khomeini starb, wandelten sich die Beisetzungsrituale zu Demonstrationen islamischer Macht.
Die Demonstrationen schwappten über in die islamischen Republiken der UdSSR. In Usbekistan etwa gingen vom Iran unterstützte schiitische Meschketen in die Offensive, staatliche Truppen schlugen zurück. Nach den Kampfhandlungen wurden an die 90 Tote gezählt.
Kurz vorher war es auch in den kaukasischen Republiken zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen. In Georgien demonstrierten Aktivisten für die Unabhängigkeit des Landes. Nach einem Tränengaseinsatz von Spezialtruppen des sowjetischen Innenministeriums blieben 20 Tote auf den Straßen von Tiflis zurück.
Ein Star wird geboren
In Deutschland hingegen wurde Gorbatschow wie ein Star gefeiert. Hatte er doch schon im Jahr 1988 mit seinenThese der Nicht-Einmischung in die Länder des Warschauer-Paktes eine starke Bewegung in das starre Ost-West-Gefüge gebracht. Und damit die Hoffnung erweckt, dass auch das Kernstück der Ost-West-Trennung, das zweigeteilte Deutschland, von der neuen Dynamik erfasst werde.
Teilung "nie gewollt"
In seinen 1999 erschienenen Memoiren "Wie es war: Die deutsche Wiedervereinigung" schrieb Michail Gorbatschow über die Grundzüge der sowjetischen Deutschlandpolitik. Er beharrt darauf, dass die Sowjetunion die Trennung der beiden deutschen Länder nie gewollt habe, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges aber nicht verhindern konnte. Weiters betont er, dass die Sowjetunion aus Eigeninteresse mittelfristig an der Existenz eines starken Deutschlands in der Mitte Europas interessiert sein sollte - eine Position, die übrigens auch schon von den Geostrategen des russischen Zaren vertreten worden war.
Jedenfalls wurden "Gorbi" und seine Raissa heiß umjubelt, als sie am 12. 6. 1989 in Bonn landeten. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßte ihn: "Herr Generalsekretär, es ist mir eine große Freude, dass..." - Und wie ein alter Freund antwortete der sowjetische Präsident: "Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich möchte ihnen danken... Wir werden uns Mühe geben, gute Arbeit zu leisten, damit wir diesen Hoffnungen und Erwartungen beider Völker gerecht werden."
Als der sowjetische Besucher samt seiner adretten Gattin am Abend auf dem Bonner Marktplatz auftauchte, war der Jubel der Bevölkerung schier grenzenlos: "Gorbi-Puppen" wurden verkauft, vor laufenden Kameras herzte das Paar einen kleinen Jungen, der ihnen Blumen überreichte. Am nächsten Tag machte in den Gazetten die "Gorbimanie" die Runde.
Die politischen Erklärungen, die am Abend verlesen wurden, kreisten stets um die Wörter "europäisches Haus" und "friedliche Ordnung". Laut Bundespräsident Richard von Weizsäcker "sind wir auf dem richtigen Weg" zu einem gesamteuropäischen Haus, und Michail Gorbatschow bekundete seinen Wunsch, "alles zu tun, damit unsere Beziehungen in der Zukunft weiter vorankommen mögen".
So dürr und protokollarisch diese Wörter auch klangen - hinter dem gesamteuropäischen Haus und seinem friedlichen Aufbau versteckte sich der Verzicht der Sowjetunion, eine Einigung der beiden geteilten deutschen Staaten zu verhindern. Und mit dem Verzicht, die DDR in der sowjetischen Nachkriegsordnung zu halten, eröffneten sich auch für die anderen Satellitenstaaten der UdSSR bisher ungeahnte Wege.
Die Geister, die er rief
Lang sind die Debatten, ob Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow diesen Weg seit seiner Wahl im März 1985 bewusst einschlug und nur durch taktische Zugeständnisse an die Strukturkonservativen einige Abänderungen vornahm. Vieles spricht allerdings dafür, dass der sowjetische Staats- und Parteichef einen Stein ins Rollen brachte, der unzählige Länder in ihrer staatlichen, ökonomischen und ethnischen Konsistenz erschütterte. Nach dieser These reagierte Gorbatschow nur auf die Kräfte, die er freigesetzt hatte, er stellte sich - oft auch erschreckt und abwehrend - der Eigendynamik eines ursprünglich von ihm eingeleiteten Prozesses.
Doch zurück zum Staatsbesuch in der Bundesrepublik und zur Gorbimanie. Am 14. Juni 1989 flog Michail Gorbatschow mit Gattin und etwa zwölf Journalisten mit einer Transall-Bundeswehr-Maschine nach Stuttgart. Etwa 50.000 Menschen feierten dort das russische Paar, die Journalisten vergleichen seinen Besuch mit dem John F. Kennedys im Jahr 1963.
Nach den Gesprächen mit dem damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth, bewegte sich der Konvoi zur Universität. Computer und Maschinen waren aufgebaut. Der Kopf der russischen Staats- und Parteichefs sollte per Laserstrahl abgetastet werden, damit seine Konturen auf Metall abgebildet werden konnten. Gorbatschows Verzicht auf diese Show offenbarte einen Charakterzug, der im Medienrummel um seine Person oft unterging: Er war keine telegene Gestalt, die dauergrinsend für Medien und Publikum agierte. Seine Auftritte wirkten sogar ein bisschen hölzern, seine Reden entbehrten nicht der Langatmigkeit und der Stereotypie.
"Mauer kann verschwinden"
Euphorisch hingegen folgender Satz, den Gorbatschow zum Abschluss seines Besuches in der Bundesrepublik Deutschland äußerte: "Die Mauer kann wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen entfallen, die sie hervorgebracht haben." Und unzählige Zaungäste jubelten dem sympatischen Mann aus Moskau zu.
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Im Zuge der Serie "Der Fall des Eisernen Vorhangs" sind bisher erschienen:
29.4.: "Ungarn stößt die Tür zum Westen auf."
6.5.: "Aufruhr im Arbeiterparadies - Die Tage Erich Honeckers sind gezählt."