In New York blickt die größte ukrainische Exil-Gemeinschaft der USA mit Resignation und Ohnmacht auf die Ereignisse in der Heimat.
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New York. Um die Ecke, auf der oberen Hälfte der Elizabeth Street, verkaufen sie Designerpyjamas um 300 Dollar das Stück. Auf der anderen Seite des Häuserblocks mit der unscheinbaren Kirche riecht es dagegen streng, dort bieten die Chinesen Fisch und Hummer feil, und das schon seit sechs Uhr morgens. Aber den Leuten, die sich im Haus 359 Broome Street einfinden, ist weder an Shoppen noch an fernöstlichen Delikatessen gelegen am Tag des Herrn. Jeden Sonntag um zehn Uhr versammeln sich in der Holy Trinity Ukrainian Church am Nordrand von Manhattans Chinatown dutzende Exilanten aus der Ukraine, um gemeinsam den Gottesdienst zu feiern.
Der streng reglementierte Ablauf einer ukrainisch-orthodoxen Messe (viel und lange stehen, viel und lange knien, ein Priester, der fast ausschließlich mit dem Rücken zur Gemeinde predigt) lockert sich mit der Dauer des Rituals. Gegen Mittag haben einige der jungen Gläubigen längst ihre Smartphones herausgeholt und schicken SMS durch die Gegend. In den hinteren Reihen beginnt um diese Zeit ein reges Kommen und Gehen. Neuankömmlinge bringen Getränke, heimische Brot-Spezialitäten und Mehlspeisen. "Es ist so eine Art wöchentliches Familientreffen", sagt Artem, während er das mitgebrachte Gebäck von der Alufolie befreit.
"Wir können nur beten"
Der 43-Jährige ist mit seiner Frau und seinem Sohn da. Nach New York sind sie erstmals Ende der Neunzigerjahre gekommen und "seitdem hab ich nie wieder daran gedacht zurückzukehren. Trotzdem habe ich oft Heimweh. Komisch, oder?", sagt er. Seine Frau nickt stumm. Es ist eine fromme Familie aus einer weit weg liegenden Stadt, die sich seit ein paar Wochen im Zentrum eines Konflikts wiederfindet, der die Welt in Atem hält. "Seit dem Höhepunkt der Proteste in der Hauptstadt rufen wir praktisch täglich in Donezk an, um nachzufragen, ob bei unseren Verwandten alles okay ist", sagt Artem. "Es ist dort alles weitgehend friedlich, aber es herrscht eine seltsame Stimmung. Seit dem, was auf der Krim passiert ist, traut niemand niemandem mehr. Die einen fürchten sich, dass bald die Russen kommen. Die anderen wünschen es sich." Was tun? Artem zuckt mit den Schultern und seufzt. "Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Der Einzige, der weiß, was passieren wird, ist Putin. Uns bleibt nichts anderes, als weiterzumachen." Weitermachen? Womit? "Unseren Familien zu helfen, mit dem, was wir verdienen. Ansonsten können wir nur auf Gott hoffen." Das ukrainische New York betet und schickt Geld. "Mehr ist nicht möglich", sagt Artem.
Seit Ende November befinden sich die Dinge in der Ukraine im Fluss, und weil seitdem so viel passiert ist - der Sturz eines Präsidenten, die Entmachtung seiner Regierung, die Einverleibung eines Teils des Staatsgebiets durch die Russen, alles begleitet von dutzenden Toten und tausenden Verletzten -, zeigt man sich auf der anderen Seite des Atlantiks auf alles gefasst. Nordamerika beherbergt die größte Zahl an aus der Ukraine stammenden Menschen außerhalb der Länder der ehemaligen Sowjetunion, fast eine Million. In New York City, wo mit Abstand die meisten von ihnen leben - rund 150.000 Leute -, haben sie traditionell eine vergleichsweise kleine, aber merkbare Präsenz. Die Stadt beherbergt unter anderem ein Generalkonsulat, ein Kulturzentrum und ein ukrainisches Museum. Dazu kommen noch ein halbes Dutzend über die Stadt verteilte ukrainisch-orthodoxe Kirchen und zahlreiche Vereine und Organisationen, die sich um alles Mögliche kümmern, von der Brauchtumspflege bis zur Hilfe für neue Immigranten.
Dementsprechend waren die Erschütterungen von Maidan und Sewastopol hier stärker zu spüren als in jeder anderen US-Stadt: Auf dem Times Square brannten russische Flaggen; das nahe dem UNO-Hauptquartier beheimatete Konsulat stand zeitweise unter Dauerbelagerung. Im East Village, das vor gar nicht langer Zeit noch als "Little Ukraine" bekannt war, waren wochenlang ganze Häuserblocks von Blumen gesäumt, im Gedenken an die Opfer der Kämpfe in Kiew. In den Kirchen wurde gesammelt und gebetet für die Heimat. "Es passierte einfach alles so plötzlich", sagt Herr Vadim, ein gut gekleideter Mann um die sechzig, der spät und allein zum Gottesdienst gekommen ist und den hier offenbar jeder kennt. "Geschäftsmann", antwortet er auf die Frage nach seinem Beruf, und das Einzige, was ihm sonst noch dazu noch einfällt: "Import, Export." Während der Kirchenchor seine Stimmen erhebt, geht er nach draußen, um für Essensnachschub zu sorgen. "Es sind seltsame Zeiten", sagt er, "man muss aufpassen, was man zu wem sagt." Wie er die politische Situation einschätzt, nachdem die Krim ein für alle Mal verloren scheint? "Sagen wir es so: Es war bis zu einem gewissen Grad erwartbar, was auf der Krim passiert ist. Ein Putin lässt sich so eine Behandlung nicht gefallen." Und was heißt das jetzt? Vadim lächelt. "Du darfst nicht vergessen, dass der Verlust der Krim auch eine andere Seite hat." Welche? "Über eine Million Leute weniger, die bis zum Lebensende für Janukowitsch und seine Partei gestimmt hätten." Gut, aber was ist mit der immer noch stattlichen Anzahl russischstämmiger Ukrainer im Osten? "Wenn sie wollen, können sie nach Russland gehen. Diese Option stand ihnen aber schon immer offen. Insofern hat sich nichts geändert. Komm, hilf mir, die Doughnuts reinzutragen."
Während das Thema unter den Mitgliedern seiner Gemeinde kontrovers diskutiert wird, gibt sich der Mann vorne am Altar diplomatisch. Der Priester, ein angegrauter bärtiger Riese mit sanfter Ausstrahlung, spricht von den "Opfern der Krise, für die man beten soll", von der "Hoffnung auf eine gute Zukunft überall im Land" und von der "Kraft der spirituellen Heilung", deren Effekt nicht zu unterschätzen sei. Gerade in Zeiten wie diesen.
"Ohne Russland geht es nicht"
"Wir sind hier alle klar pro-westlich orientiert. Sonst wären wir ja nicht hier in Amerika", sagt Irina, eine der jungen Frauen, die routiniert mit der einen Hand das Kreuz macht, während sie mit der anderen SMS verschickt. "Aber es ist auch eine Generationenfrage. Viele Junge wollen mit Russland nichts zu tun haben. Aber uns ist auch bewusst, dass es ganz ohne Russland nicht geht. Nur dass Putin jetzt das Erdgas als Waffe einsetzt, um die Ukraine zu erpressen, das geht selbst den Alten einen Schritt zu weit, die sonst noch gute Erinnerungen an die Sowjetunion haben." Denn dass es die Verwandten in Europa angesichts der neuen Gaspreise, die nach dem Auslaufen der russischen Rabatte am Dienstag um knapp 44 nach oben geschnellt sind, künftig deutlich schwerer haben werden, ist hier jedem klar.
Vom Nordrand Chinatowns sind es nur 20 Minuten bis zum Ukrainian Museum an der 6. Straße. Während sich der Eingangsbereich ganz der Aktualität widmet - Videos und Fotos, die die Maidan-Proteste dokumentieren, Postkarten und Poster mit oppositionellen Slogans -, wird im zweiten Stock gerade eine Ausstellung mit sowjetischen Propagandaplakaten aus den Zwanzigerjahren abgebaut. Damals wurden die ukrainischen Bauern von den sowjetischen Machthabern in den Kollektivismus gezwungen und dazu, ihre immer karger werdenden Ernten zum Wohl des neuen Staatengebildes abzugeben. Eine Entwicklung, die im "Holodomor" mündete, dem "Hungerholocaust", dem mindestens 3,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. "Zumindest aushungern können sie uns heute nicht mehr", sagt die Dame an der Kassa. "Höchstens erfrieren lassen."