Evangelikale halten Trump nur bedingt die Treue. Das eröffnet anderen Kandidaten Chancen.
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Es ist der 19. Oktober 2022, Donald Trump sitzt vor einer grauen Wand in seinem Anwesen in Mar-a-Lago. Der ehemalige US-Präsident schaut aufmerksam, wach. Nur selten schweift sein Blick ab, oft fokussiert er die fragestellende Anwältin Roberta Kaplan. Als diese wissen möchte, ob der Satz, man könne als Star, Frauen ohne deren Einverständnis an intime Stellen greifen, von ihm stamme, entgegnet Trump, dass sich dieser Umstand "in den letzten Millionen Jahren weitestgehend bewahrheitet" habe. Diese und andere Aussagen führen Anfang Mai letztlich zur zivilrechtlichen Verurteilung des New Yorker Immobilien-Tycoons wegen sexuellen Missbrauchs und zu einer Zahlung von fünf Millionen Dollar an die Klägerin E. Jean Carroll.
In religiös-konservativen Wählergruppen, die nie etwas mit Trumps ausschweifendem New Yorker Lebensstil anfangen konnten, wurde der Prozess mit durchaus gemischten Gefühlen verfolgt. Der zur Schau getragene Protz und die zahlreichen Affären des zweifach geschiedenen 77-Jährigen widersprechen zwar den Moralvorstellungen der tiefgläubigen Christen. Gleichzeitig ist Trump seit seiner Wahl 2016 immer jener Politiker gewesen, der sich intensiv für die zentralen Anliegen dieser Gruppen eingesetzt hat.
Besonders treu war ihm hierbei die Wählerschicht der weißen evangelikalen Christen, von denen zuletzt etwa drei Viertel für ihn stimmten und der - je nach Forschungsinstitut - zwischen 45 und 80 Millionen US-Amerikaner angehören. Ein Abonnement auf diese Stimmen besitzt der Ex-Präsident jedoch nicht. Es gebe derzeit noch kein Zusammenrücken hinter Trump, sagt Bob Vander Plaats, ein wichtiger Vertreter der Evangelikalen aus Iowa, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. "Die evangelikalen Wähler sind ausgesprochen offen, wenn es um andere Kandidaten geht."
Dass viele ehemalige Wähler sich noch nicht auf Trump festgelegt haben, wird vor allem bei den parteiinternen Vorwahlen eine Rolle spielen, die unter ganz anderen Vorzeichen stehen als die Präsidentenwahl selbst. So entscheiden sich die eingetragenen Parteimitglieder hier in der Regel ohne große wahltaktischen Überlegungen für jenen Kandidaten, der die eigenen Überzeugungen möglichst umfassend vertritt, selbst wenn dessen Positionen in weiterer Folge kaum mehrheitsfähig sind. Denn selbst wenn sich der eigene Favorit nicht durchsetzt, so gewinnt zumindest ein ihm nahestehender Konkurrent. Nicht ausgeschlossen ist damit, dass es heuer zu einer ähnlichen Situation wie vor den Wahlen 2016 kommt. Damals stimmten die Evangelikalen vor allem für den texanischen Senator Ted Cruz, republikanischer Präsidentschaftskandidat wurde aber am Ende Donald Trump.
Glaube und Tradition
Ideologisch nährt sich das evangelikale Christentum aus dem Calvinismus, einer besonders frommen Variante des Protestantismus. Die von Musik begleitenden evangelikalen Predigten sind zudem mitreißend, die Priester verstehen es, das Publikum zu animieren und aktiv miteinzubeziehen. Viele Gläubige erleben dabei rauschhafte Glücksmomente und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, weshalb die Gottesdienste für viele Teilnehmer nahbarer und authentischer wirken als jene der anderen Kirchen.
Viele Prediger sind oft auch Autodidakten und knüpfen damit an die in den USA seit der Kolonisierung populäre Tradition des Laienpriestertums an. Die calvinistischen Prinzipien sind auch eng mit der Verfassungsgeschichte der USA und der Entwicklung des Landes verknüpft: Religionsfreiheit, Gewaltenteilung sowie Bürger- und Menschenrechte bilden seit jeher die Grundsteine der US-Gesellschaft.
Gleichwohl bedeuten Bibeltreue und der unbedingte Glaube an die Schöpfungslehre auch eine Abkehr vom Weltlichen. So ist die Ablehnung der Abtreibung der wahrscheinlich bedeutendste gemeinsame Nenner in dieser Wählergruppe, wobei man hier doch versucht, negative Konnotationen zu vermeiden. Die Rede ist vielmehr von einer "Pro Life"-Bewegung, also einem Bündnis von Lebensbefürwortenden, das sich auch im Falle von Vergewaltigung und zu erwartenden Behinderungen des Kindes gegen Schwangerschaftsabbrüche stellt.
Auf massive Ablehnung stößt bei den Evangelikalen zudem seit einigen Jahren das Konzept der so genannten Wokeness. Die Gleichstellung von Homosexuellen, die Debatte um Geschlechteridentitäten und Sexualkunde in Schulen sind für die tiefgläubigen Christen ein rotes Tuch, die Critical Race Theory, welche Rassismus und Diskriminierung von Nicht-Weißen als systemimmanente Faktoren ausmacht, wird als linke Propaganda zurückgewiesen.
Offener Wettbewerb
Von der zunehmenden Fokussierung der Evangelikalen auf diese Debatte könnte in den Vorwahlen nicht zuletzt Ron DeSantis profitieren. Der Gouverneur von Florida hat sich schon seit Jahren den Kampf gegen die Wokeness auf die Fahnen geschrieben, in seinem Bundesstaat sorgte er nicht zuletzt mit der Erlass eines Gesetzes, das den Schulunterricht über sexuelle Orientierung weitgehend verbietet, für Aufregung. Anders als Trump führt DeSantis mit seiner Frau Casey, einer ehemaligen Fernsehmoderatorin, auch ein Vorzeigefamilienleben, womit der 44-Jährige für alle jene, denen das Trumpsche Spektakel zu wild ist, eine durchaus ernsthafte Alternative darstellen könnte.
Möglicherweise noch attraktiver für religiös motivierte Wähler könnte sich aber Mike Pence erweisen, der sich vor kurzem ebenfalls für eine Kandidatur entschieden hat. Pastor Robert Jeffress, dem allein auf Twitter 115.000 Menschen folgen, prognostizierte dem ehemaligen Vizepräsidenten jüngst in einem Fernsehinterview einem massiven Zulauf an Stimmen. Sein Freund Pence habe unter allen Kandidaten die besten Chancen Trump evangelikale Wähler abspenstig zu machen, sagte Jeffress gegenüber dem christlichen Sender TBN.
Trump zu unterschätzen, wäre jedoch ein Fehler, meint Kurt Remele, Professor für Theologie in Graz, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". So habe Trump mit der Benennung konservativer Richter am Obersten Gerichtshof und dem damit einhergehenden Kippen des Urteils "Roe gegen Wade" Schwangerschaftsabbrüche deutlich erschwert und damit ein zentrales Wahlversprechen eingelöst. Für Evangelikale gelte Trump als Macher, der auf Worte Taten folgen lässt, sagt auch Pastor Jeffress. "Woran sich die meisten Evangelikalen erinnern werden, ist, dass es einen Verantwortlichen dafür gibt, dass Roe vs. Wade auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet ist, nämlich Donald J. Trump."
Tatsächlich liegt der Ex-Präsident in aktuellen Umfragen derzeit noch weit vor seinen Mitbewerbern DeSantis und Pence, die noch dazu Gefahr laufen, sich eventuelle Anti-Trump-Stimmen gegenseitig wegzunehmen. Während die Polarisierung um seine Person Trump bei den eigentlichen Präsidentschaftswahlen womöglich schadet, weil moderate Republikaner angesichts der Konsequenzen dann doch den Demokraten den Vorzug geben, könnte er aber zumindest bei den Vorwahlen triumphieren.
Rationale Entscheidung
Straucheln lassen könnte Trump aber noch die jüngste Anklageerhebung wegen des unerlaubten Besitzes von Geheimdokumenten. Sollte sich der Vorwurf erhärten und sich Trump diesmal nicht als unschuldiges Opfer stilisieren können, dürfte das vor allem Wähler vom rechten Rand vor den Kopf stoßen. Laut einer Auswertung aus Umfragen und Studien der Universität Chicago waren im Jahr 2016 allem voran Wirtschaft, innere Sicherheit sowie der Kandidat selbst entscheidend dafür, dass evangelikale Wähler Trump ihre Stimme anvertrauten. Auch Theologe Remele glaubt, dass ein Kandidat mit einem weniger ausschweifenden Privatleben und der Aussicht auf eine verantwortungsvollere Amtsführung durchaus Anklang bei den Evangelikalen finden könnte.