Die finanzgläubigen Staaten wie USA und Großbritannien sind keine Vorbilder mehr. | Für Wall Street und City of London brechen schwierige Zeiten an. | Krisenzeiten vertragen keine Ironie. Jemand hätte das vielleicht Lloyd Blankfein erklären sollen. Der Chef der US-Investmentbank Goldman Sachs (55 Jahre, 3 Kinder, 68 Millionen Dollar Jahresgage) hätte sich dann wohl jenen Sager verkniffen, der wie kein anderer die Arroganz einer abgehobenen Banker-Kaste symbolisiert: "Ich verrichte Gottes Werk", ließ Blankfein im November 2009 Journalisten wissen.
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Mit routinierter Empörung brach der Entrüstungssturm los - die Medienöffentlichkeit hielt moralisch Gericht über die einstigen "Masters of the universe", über den Berufsstand Investmentbanker, der Teufels Beitrag zur Krise symbolisiert wie kein anderer. Dabei hatte Blankfein recht. Eine "creatio ex nihilo", eine Schöpfung aus dem Nichts, hat die Mutter aller Finanzkrisen ausgelöst - Finanzingenieure vermeinten, Schrottpapiere aus dem US-Immobilienmarkt zu Gold verbriefen zu können. Das Bemerkenswerte: Blankfeins Hochmut kam erst nach dem Fall. Was er selbst so nicht empfinden dürfte. Wie denn auch: Ist nicht sein Institut übrig geblieben, während Lehman Brothers das Feld räumte und Merrill Lynch und Bear Stearns übernommen wurden? Krise überlebt, Marktanteile gewonnen, Riesengewinne eingestreift: Was konnte er falsch gemacht haben?
Das Selbstverständnis von Leuten wie Blankfein blieb von der Krise bis dato ebenso unangetastet wie das Finanzgetriebe insgesamt. Der Abwehrkampf der Finanzlobby läuft wie geschmiert, das enge Netz zwischen Politik und Banken zahlt sich aus: Blankfeins ehemaliger Vorgesetzter Hank Paulson war Finanzminister, als unter George W. Bush die Rettungspakete geschnürt wurden. Ehemalige Goldman-Leute sind derzeit Chef der Notenbank in New York, Geschäftsführer der New Yorker Börse und Abteilungsleiter für Anlegerentschädigung bei der Kontrollbehörde SEC. Den Rest erledigt die lähmende US-Gesetzgebung - strengere staatliche Regulierung lässt weiter auf sich warten. Eines wird nach der Krise dennoch anders sein. Für den Kasinokapitalismus angelsächsischer Prägung, der jahrzehntelang als Erfolgsmodell gefeiert wurde, rollt die Kugel aus. Wall Street und City of London haben ihre besten Tage hinter sich. Über Jahrzehnte hatte die Rivalität die beiden Finanzplätze hochgeschaukelt - wurde die Autonomie des einen zu stark beschnitten, profitierte umgehend der andere. So blieb der Druck zur Deregulierung konstant hoch - schon vor US-Präsident Ronald Reagan (1981 bis 1989) und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (1979 bis 1990), welche die Entfesselung des freien Marktes besonders vorantrieben.
Die City of London war seit dem Mittelalter ein bedeutender Finanzplatz, ihr Aufstieg zum größten Auslandsfinanzzentrum der Welt begann aber in den 1980er Jahren: Das Ende des Bretton-Wood-Systems der fixen Wechselkurse und die Innovationen der Computer- und Kommunikationstechnologie hatten die Globalisierung der Finanzmärkte eingeläutet. Dazu kamen neue Bankengesetze und das Ende der Devisenkontrollen 1979, die London erstmals für ausländische Institute attraktiv machten. Margaret Thatcher zeichnete schließlich für den "Big Bang" an der Londoner Börse verantwortlich - kein Kursabsturz, sondern die Aufhebung von Gebühren und Zulassungsbeschränkungen im Oktober 1986. Großbritannien hatte seine neue Wachstumslokomotive: den Finanzsektor. Die Krise zeigt den Briten nun die Kehrseite der Erfolgsstory: Eine Wirtschaft, die nur auf Geldgeschäfte und einen aufgeblähten Immobiliensektor vertraut, steht auf wackeligen Beinen. Denn just im Mutterland der modernen Industrie vollzog sich parallel zum Finanz- und Immobilienboom ein dramatischer Niedergang des verarbeitenden Gewerbes: Allein in den letzten 10 Jahren ging in Großbritannien ein Drittel der Industriearbeitsplätze verloren. Der Anteil der Industrieproduktion an der Wertschöpfung sank von 20 auf 12 Prozent - unter Labour-Regierungen stärker als unter den Konservativen. Die einst noble Automobilindustrie ist faktisch nicht mehr existent, die Fluglinie British Airways fliegt am Rande des Bankrotts. Die Folge: Großbritannien steckt als einzige große Industrienation noch in der Rezession, ein selbsttragender Aufschwung ist in weiter Ferne.
Ökonomisch sind die Briten zur Mittelmacht herabgesunken: Douglas McWilliams vom Centre for Economics and Business Research erwartet, dass die Insel bis 2015 aus den Top Ten der wichtigsten Volkswirtschaften fliegt und unter anderem von Brasilien, Indien, Russland und China überholt wird. Ähnlich das Bild in den USA: Zwischen 1994 und 2000 wuchsen die Finanzdienstleistungen doppelt so rasch wie die Industrie, die in den letzten zehn Jahren ein Viertel der Jobs einbüßte. Wirklich effizient produzieren die USA nur noch eines: Schulden. Die größte Volkswirtschaft der Welt braucht dringend ein Konzept, das auf mehr baut als den privaten Konsum. Denn auch die Krisenbekämpfung gelang anderen besser: Marktwirtschaften mit einem traditionell starken Sozialsystem hielten mehr Menschen in Beschäftigung - etwa Deutschland, wo die Arbeitslosigkeit dank Kurzarbeit trotz des fatalen Exporteinbruchs überraschend niedrig blieb. Auf die angelsächsische Finanzindustrie kommen ungemütliche Zeiten zu. Dass in der EU künftig just ein Franzose, Michel Barnier, die Finanzmärkte überwachen wird, hat in der City für schwere Irritation gesorgt. Gleichzeitig steigt innenpolitisch der Druck: Mit hohen Steuern für Besserverdienende und auf Banker-Bonuszahlungen will die angeschlagene Labour-Regierung Kapital aus der bankenfeindlichen Stimmung schlagen. Der Zorn ist mitten in der Branche selbst angekommen. Die Turbo-Investmentbanker seien "nutzlos für die Gesellschaft", zürnte Adair Turner, der Chef der britischen Finanzaufsicht. Wenn die Broker, Banker und Hedgefonds-Manager mit ihren Drohungen ernst machen und aus London abwandern, so würde diesmal New York kaum noch profitieren: Die Gewinner wären Asiens Finanzplätze wie Hongkong, Singapur oder Shanghai.
Die Geldmaschinerie von Goldman Sachs läuft unterdessen weiter, als wäre nie etwas geschehen: Kaum waren die Staatshilfen zurückgezahlt, räumte das Institut mehr als 22 Milliarden Dollar für Boni beiseite. Im Unterschied zu früher wird das heute aber nicht mehr klaglos akzeptiert: Ein auf Feuerwehrleute und Polizisten spezialisierter US-Pensionsfonds bedachte die Goldman-Crew rund um Blankfein mit Klagen: Sie würden "blind" für Ergebnisse belohnt, die nichts mit ihrer Leistung zu tun hätten. Just jene Investmentbank, die besser als alle anderen durch die Krise gesteuert ist, wird dafür geprügelt, dass sie wieder blendend verdient. Kann Erfolg tatsächlich bestraft werden? Die Steuerzahler, die die Zeche für die Krise zahlen müssen, fordern Opfer. Mit abstrakten Kontroll- und Regulierungsmaßnahmen, die eigentlich dringend nötig wären, weiß die Mehrheit wenig anzufangen: Sie will, dass Köpfe rollen. Die Uneinsichtigkeit von Branchengrößen wendet sich deshalb gegen sie selbst. Verdientermaßen oder nicht - dass Volkes Zorn ihn und Goldman Sachs besonders trifft, hat sich Lloyd Blankfein selbst zuzuschreiben.