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Blättern wir den Kalender um mehr als zweitausendzweihundert Jahre zurück: Der karthagische Feldherr Hannibal ist gerade erst ein Jahr alt geworden. In China beginnt man soeben mit dem Bau der Großen Mauer. Der gigantische Leuchtturm von Pharos, eines der Sieben Weltwunder der Antike, bewacht den Hafen von Alexandria. In dieser Stadt im Nildelta betreibt ein Grieche einen Friseurladen. Sein Sohn, ein leidenschaftlicher Bastler, Tüftler und Erfinder, baut dem Vater einen höhenverstellbaren Spiegel im Laden ein.
Die große Erfindung
Einige Jahre später: Wir schreiben inzwischen 246 vor Christi Geburt, der Barbier ist längst gestorben, der Sohn sitzt in seiner eigenen Werkstatt in Aspendos, ein paar Kilometer vom heutigen Antalya in der Südtürkei entfernt. Heute feiert er seinen 50. Geburtstag und wird seine Familie und die Geburtstagsgäste mit seiner neuesten Bastelei überraschen. Was hatte er nicht schon alles erfunden: eine Art automatischer Steinschleuder mit einem Federkatapult; die erste Feuerwehrspritze mit einer Saug- und Druckpumpe; sogar eine Wasseruhr mit Zahnradgetriebe hat er konstruiert.
Doch das Ungetüm, das er heute seiner staunenden Mitwelt vorführen wollte, war die bei weitem spektakulärste Erfindung seines Lebens. Und die nachhaltigste. Er nannte es "Hydraulos", was so viel bedeutet wie Wasser-Aulos. Der Aulos war eine ziemlich laute Oboe und im antiken Griechenland weit verbreitet. Acht dieser Instrumente hatte er auf einen Kasten gestellt, jedes genau über einem verschließbaren Loch. Daneben stand ein Wasserbehälter, in den mit einem Hebel Luft gepumpt wurde - das Know-how mit Saug- und Druckpumpen hatte er ja schon bei seinem Feuerlöscher angewandt.
Das Gewicht des Wassers drückte die Luft in den Kasten mit den acht Auli. Wenn Ktesibios, der Erfinder, nun eines der Ventile öffnete, erklang der jeweilige Aulos.
Diese Wasserorgel des Ktesibios wurde zu einem echten Renner. Die Erfindung fand insbesondere im antiken Rom häufige Verbreitung, wo sie auf den Märkten und Jahrmärkten, vor allem aber im Zirkus bei den Gladiatorenkämpfen eingesetzt wurde. Ktesibios - manche sehen in ihm den ersten Techniker überhaupt und einen der größten der antiken Welt - hatte die Orgel erfunden.
Das "klingende Werk"
Natürlich nahm auch hier die Technik einen rasanten Aufschwung. Aus den acht Tönen wurden bald einige Dutzend, aus den Ventilen wurden Tasten und statt des Wasserdrucks wird heute Druckluft durch riesige Ventilatoren in die Orgel geblasen. Die größte bespielbare Orgel der Welt hat fast 30.000 statt der ursprünglichen acht "Auli".
Dennoch, das Bauprinzip und die Hauptteile der Orgel sind seit zweiundzwanzig Jahrhunderten gleich geblieben: die Pfeifen als das "klingende Werk"; die Windlade, der Kasten, auf dem die Pfeifen stehen und über den sie mit Druckluft - also dem "Wind" - versorgt werden; die Ventile, mit denen man durch Tastendruck die Windzufuhr öffnen und schließen, also die Orgel "spielen" kann und der unter Druck stehende Speicherbalg, der den Wind für die Orgel liefert.
Sicher hatte auch das "Organon" des Ktesibios seine Vorläufer. Die bekanntesten sind die Pan-Flöte, bei der einzelne, verschieden lange Röhrchen zusammengebunden sind, und die Sackpfeife, auch Dudelsack genannt. Von der Pan-Flöte übernahm die Orgel das Prinzip, dass die einzelne Pfeife in ihrem Ton unveränderlich ist, so dass man das Röhrchen wechseln muss, wenn man einen anderen Ton erzeugen will. Vom Dudelsack stammt das Prinzip des Speicherbalgs. Der Pfeifer bläst nicht direkt in die Röhrchen, sondern in einen Ledersack, den er unter dem Arm so fest drückt, dass die Luft in die Pfeifen gepresst wird.
Für die Kulturgeschichte der Orgel in Europa sind zwei Daten aus der frühmittelalterlichen Reisediplomatie wichtig. In den Jahren 757 und 811 kam jeweils eine Gesandtschaft vom byzantinischen Kaiserhof an den fränkischen Hof und brachte erst für Pippin den Jüngeren und später für dessen Sohn Karl den Großen eine Orgel als Geschenk mit. Den Reichsannalen zufolge ließ der Sohn Karls des Großen, Kaiser Ludwig der Fromme, 826 eine Orgel für seine Pfalz in Aachen von einem aus Venedig stammenden Priester namens Georg anfertigen, vermutlich die erste in Westeuropa hergestellte Orgel nach der römischen Antike.
Orientalischer Pomp
War die Orgel also im Westeuropa des Frühmittelalters in absolute Vergessenheit geraten, so hat sie sich im Oströmischen Reich vor allem am byzantinischen Kaiserhof als Requisit des orientalischen Pomps erhalten. Man ließ zum Zeichen des Reichtums Orgeln aus Gold bauen und mit Edelsteinen besetzen, ebenso goldene Bäume mit singenden Vögeln im Geäst und von Geisterhand bewegten silbernen Blättern. Eigentlich waren diese Palast-Orgeln kunstvolle Spielautomaten, die dem Amüsement und dem Entzücken und weniger dem Musizieren dienten. Sie erfreuten sich auch im Fernen Osten von Indien bis China größter Beliebtheit an den Herrscherhöfen.
Ein durch und durch säkulares Instrument also. Undenkbar, dass so ein weltliches Ding jemals eine Rolle in der Kirche spielen würde. Die Kirchenväter der spätrömischen Zeit betrachteten die Kirchenmusik im Allgemeinen und die Orgel im Besonderen als die Sinne aufreizendes Teufelszeug.
Erst im 10. Jahrhundert finden sich erste Berichte über Kirchenorgeln. Wir wollen nun die lange Entwicklung zu dem Instrument, wie wir es heute kennen, einfach überspringen. Die Orgeln wurden immer größer, immer differenzierter und immer komplizierter. Das Zirkusinstrument von einst, das Teufelzeug der Kirchenväter - es ist heute beinahe zum Symbol für alles Sakrale, Weihevolle, Kirchliche geworden. Wie die Kirchenglocken versinnbildlicht auch die Orgelmusik das Gebet der Menschen, das emporsteigen und das Ohr Gottes erreichen will, eine akustische Brücke zwischen unserer Lebenswelt und der Welt der Spiritualität, zwischen Alltag und Sonntag, zwischen Vergänglichkeit und ewigem Leben, zwischen Erde und Himmel.
Und wer hat nicht alles für Orgel komponiert! Im Barock Frescobaldi, Buxtehude, Bach und Söhne. In der Romantik Mendelssohn Bartholdy, Liszt, Brahms, in der Neoromantik Rheinberger, Max Reger oder Franz Schmidt. Und in der Moderne Marcel Dupré, Johann Nepomuk David oder Olivier Messiaen, um nur wenige zu nennen. Ironie der Geschichte: Von einem der größten Organisten, Anton Bruckner, ist kein originales Orgelwerk erhalten.
Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gab es noch einmal einen "Rückfall" ins allzu Irdische - der Jazz, das Kino und die Elektronik brachten neue Typen von Unterhaltungs-Orgeln hervor. Diente die Orgelliteratur der Renaissance und des Barocks vor allem sakralen Zwecken, so entdeckte die Romantik des XIX. Jahrhunderts die Orgel auch für die Oper und für die Sinfonik.
Die camera obscura und der Stummfilm brauchten eine akustische Untermalung, die entweder durch Salonorchester oder Pianisten, später aber immer häufiger von den Wurlitzer Kinoorgeln beigesteuert wurde. Und wie im alten Orient verfügten auch die modernsten Kinoorgeln über diverse Effekte, um allerlei Geräusche zu erzeugen z.B. Trommeln und Vogelzwitschern, Telefonklingeln, Windheulen, Meeresrauschen, Huftrappeln usw. Auch der Hörfunk beauftragte Orgelbauer mit der Herstellung sogenannter Funkhausorgeln für Funkkonzerte oder zur musikalischen Begleitung von Unterhaltungssendungen und Hörspielen. Die Vielstimmigkeit und Vielfarbigkeit der Orgel wurde zum Vorbild für Synthesizer, Keyboards und elektronische "Orgeln", die den Weg zurück in die profane Musik fanden.
Innerhalb der Kirchenmusik nimmt die Orgel eine herausragende Stellung ein. Sie ist das Musikinstrument, dem durch die Liturgie ein großer Aufgabenkreis zugefallen ist, was ihr zwar eine oberflächliche Popularität bescherte - über ihren Aufbau und ihre Funktionsweise herrscht jedoch weithin Unklarheit.
Das Prinzip, nach dem alle Orgeln arbeiten, ist denkbar einfach. Um Töne zu erzeugen, wird Luft in Pfeifen geblasen. Die Klänge dieser Pfeifen können sehr unterschiedlich sein, laut, leise, schrill oder dumpf, je nach Beschaffenheit der einzelnen Pfeife.
Die Luft, der Orgelbauer spricht vom "Wind", wird durch Bälge in die Pfeifen geblasen. Diese Bälge werden heutzutage von einem elektrisch betriebenen Ventilator mit Wind gespeist. Damit nicht alle Pfeifen gleichzeitig erklingen, ist der Zugang des Windes zu den Pfeifen durch ein Ventil gesperrt. Das Ventil ist direkt mit einer Taste der Klaviatur verbunden. Drückt der Spieler eine Taste herunter, wird das Ventil geöffnet und die Pfeife erklingt.
Was zur Orgel gehört
Das Pfeifenwerk (das den Klang erzeugt).
Die Windladen (Unterbau des Pfeifenwerks, in dem sämtliche Ventile untergebracht sind).
Eine Traktur (die Verbindung Taste-Ventil wird "Spieltraktur" genannt).
Der Spieltisch (Hier können sich mehrere Klaviaturen befinden. Je nach Größe der Orgel sind es bis zu fünf Klaviaturen, die mit den Händen zu spielen sind und Manual heißen. Eine weitere Klaviatur, das Pedal, wird mit den Füßen gespielt.)
Das Pfeifenwerk einer Orgel gliedert sich in einzelne
Register. Da jede Pfeife nur einen einzigen Ton (festgelegt durch
Tonhöhe, Klangfarbe und Lautstärke) erzeugen kann, wird für jeden neuen
Ton eine neue Pfeife benötigt. Eine Manualklaviatur hat in der Regel 56
Tasten von C bis g. Es werden demnach 56 Pfeifen verschiedener Tonhöhen
benötigt. Diese Pfeifenreihe soll aber hinsichtlich der Klangfarbe und
der Lautstärke einheitlich sein.
Solch eine Pfeifenreihe wird Register genannt. Viele Register haben ihren Namen von einem Blasinstrument, dem sie im Klang ähneln (z.B. Flöte). Andere sind nach der Bauart benannt: Gedeckt (die Pfeifen sind oben mit einem Deckel verschlossen), Spitzflöte (nach oben konisch zulaufend).
Pfeifen werden aus verschiedenen Arten von Holz oder Metall hergestellt. Es gibt aber auch Pfeifen aus Glas, Bambus, Papier, Plastik. Die Länge der Pfeife (und damit die Länge der in ihr schwingenden Luftsäule) bestimmt die Tonhöhe. Der Klang hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab. Die Pfeifenform und ihr Durchmesser (Mensur) sind von großer Bedeutung. Bei Metallpfeifen werden überwiegend Zinn-Blei-Mischungen verwendet.
Alle Register können den zwei großen Familien, der Labial- oder der Zungenpfeifen zugeordnet werden: Entscheidend ist die Art, wie der Ton erzeugt wird. Bei den Labialpfeifen wird die Luftsäule innerhalb des Pfeifenkörpers in Schwingung versetzt (zu vergleichen mit einer Blockflöte). Bei den Zungenpfeifen wird durch Anblasen eine Metallzunge zum Schwingen gebracht, deren Ton durch den aufgesetzten Becher verstärkt und moduliert wird (zu vergleichen mit einer Klarinette oder einem Saxophon).
Den Registernamen werden Zahlen zugefügt. Sie geben die Länge der tiefsten Pfeife des Registers in Fuß () an. Dabei bezeichnet 8 die Normallage, d.h. mit einem 8-Register (die tiefste Pfeife ist etwa 240 cm hoch) kann man in derselben Tonhöhe spielen wie mit einem Klavier. Da eine Pfeife von halber Länge eine Oktave höher, eine von doppelter Länge eine Oktave tiefer klingt, spielt man mit einem 16-Register auf den gleichen Tasten eine Oktav tiefer, mit einem 4-Register eine Oktave höher als notiert bzw. als Normallage.
Die Windladen bilden das technische Herzstück jeder Orgel. Alle Pfeifen stehen direkt oben darauf oder sind durch Schläuche mit ihnen verbunden. Sie beeinflussen auch die Tonan- und Tonabsprache (Einschwingvorgang) und entscheiden über die Betriebszuverlässigkeit der Orgel. Nach der Art ihrer Funktionsweise erhält das Instrument seinen Namen wie Schleifladen-, Springladen-, Taschenladenorgel usw. Außer den schon erwähnten Spielventilen, die verhindern, dass alle Töne gleichzeitig erklingen, enthält die Windlade Absperrungen für ganze Pfeifenreihen (Register). So wird es möglich, bestimmte Register - also Klangfarben - auszuwählen und zu kombinieren.
Entspricht der äußere dem inneren Aufbau der Orgel, hat jedes "Werk" eine eigene Windlade. Als "Werk" bezeichnet man die Zusammenstellung verschiedener Register, die von einem Manual aus spielbar sind. Jedes Werk bildet mit eigenen Pfeifen, Windladen, Gehäuse und Klaviatur eine Orgel für sich.
Verbindungen
Zur Traktur gehören zwei Bereiche: die Registertraktur und die Spieltraktur. Die Registertraktur ist die Verbindung von der Absperrvorrichtung einer Pfeifenreihe in der Windlade zum Registerzug des Spieltisches. Damit wählt man die Klangfarbe aus. Die Spieltraktur ist die Verbindung vom Spielventil zur Taste. Damit lässt man die einzelne Pfeife klingen. Diese Verbindungen können auf mechanischem, elektrischem oder pneumatischem Wege hergestellt werden, wobei nur die mechanische Spieltraktur dem Spieler die Möglichkeit zur Beeinflussung der Tongebung gestattet. Aus künstlerischen Gesichtspunkten ist dies eine wesentliche Voraussetzung zum Musizieren.
Der Spieltisch, das Regiepult des Orgelspielers, vereint die Manuale und die Pedalklaviatur. Hier sind die Registerzüge und Koppeln angebracht. Die Koppeln ermöglichen das Spiel mehrerer Werke von einer Klaviatur aus. Besitzt die Orgel ein "Schwellwerk", befindet sich am Spieltisch ein Schwelltritt, der ein stufenloses An- und Abschwellen des Klanges bewirkt. Damit endet unsere Reise durch zweitausend Jahre Orgelgeschichte. Obgleich die Orgel ihre Entwicklung als Instrument der Jongleure und der Gaukler begann und zu Zeiten der Römer die wüstesten Orgien begleitete, füllte sie ab dem Mittelalter mit ihrem Schall christliche Kathedralen und wurde durch die geheimnisvolle Wandlung zu einem Instrument des Gebetes, zur Trägerin geistlicher Inhalte. Gerade in unserer Zeit der Hektik und Übertechnisierung hat die Orgel die magische Macht, uns in die tieferen Sphären des Seins zu führen, uns zur Ruhe, Sammlung und Meditation zu bringen.
Markus Kauffmann in memoriam
Markus Kauffmann, Jahrgang 1947, in Wien gebürtiger "WZ"-Korrespondent ("Kauffmanns Laden"), lebte seit 1984 in Berlin. Er hat in jungen Jahren das Orgelbauhandwerk bei seinem Vater gelernt und nach dessen Tod für kurze Zeit den väterlichen Betrieb übernommen, bis er ihn 1966 seinem aus Holland zurückgekehrten älteren Bruder übergab.
Zusammen mit seinem jüngeren Bruder, dem 2010 verstorbenen Volksschauspieler Götz Kauffmann, trat er dafür ein, dass die seit 25 Jahren stillgelegte, unter Denkmalschutz stehende Riesenorgel im Dom zu St. Stephan, das Hauptwerk seines Vaters, wieder zum Klingen gebracht wird.
Die traditionsreiche Orgelbaufirma Kauffmann war 1877 in Wien gegründet worden und endete mit dem Tod des älteren Bruders im Jahr 1993. In dieser Zeit entstanden rund 150 Orgeln, die bis nach China, Ägypten, Togo, Kroatien oder Italien exportiert wurden.
Markus Kauffmann ist am 4. Dezember in seiner Wahlheimat Berlin verstorben. Im letzten Text, den er für das "extra" geschrieben hat, erzählt er die Geschichte jenes Instruments, das ihm aus familiärer Tradition besonders vertraut war.