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"Grande Dame" des Widerstands

Von Lutz Lischka

Politik

"Der Geist des Widerstands muss auch in Friedenszeiten überleben. Jeder muss in der derzeitigen Weltlage ganz auf seine eigene Art ein Mittel zum Kampf finden." Das ist das Vermächtnis von Régine Orfinger-Karlin, der "Grande Dame" des belgischen Widerstands - von ihren Studentenjahren an, als sie für die Rechte der Frauen kämpfte, während der Besatzungszeit deutscher Truppen im Zweiten Weltkrieg, und schließlich nach dem Krieg, als sie die belgische Liga für Menschenrechte wieder ins Leben rief, erneut für Frauenrechte eintrat und sich vehement für Flüchtlinge und Asylanten einsetzte.


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Régine Orfinger-Karlin starb dieser Tage in ihrer Heimatstadt Antwerpen im Alter von 92 Jahren.

Rückblick: Die Radfahrerin in den Straßen von Antwerpen fiel der Gestapo nicht besonders auf. Unter ihrer Bluse trug sie Botschaften für den Führungsstab der belgischen Partisanenarmee, im Anhänger schmuggelte sie Waffen und Bomben. Unter Lebensgefahr. Als Jüdin musste sie den Judenstern tragen, um bei einer Ausweiskontrolle nicht verhaftet zu werden, Waffen, Bomben und Botschaften mussten gut versteckt sein. Jeder Fehler hätte unweigerlich ihren Tod bedeutet. Der Kampf um Freiheit bedeutete ihr jedoch mehr.

Widerstand statt Flucht

Es war nach dem 10. Mai 1940, dem Tag, an dem Hitlers Wehrmacht Holland, Belgien und Luxemburg überrannt hatte, der das Leben wie überall in Europa veränderte. Régine Orfinger-Karlin wählte den Widerstand anstatt zu fliehen. Der Kampf war ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. "Mein Vater war russischer Abstammung", erzählte sie 1995 in dem dreiteiligen Dokumentationsfilm von André Dartevelle "A mon père resistant" über den belgischen Widerstand. "Mein Vater hatte schon immer linksgerichtete Ideen", so Régine Orfinger weiter, "er musste aber nicht um seine Existenz kämpfen, da er aus gut situierten Verhältnissen kam. Aber seine Optik war revolutionär."

Im revolutionären Geist erzogen, zählte sie schon in jungen Jahren zu den vielen Intellektuellen der kommunistischen Illusion im Westen Europas. Als sie im Alter von 19 Jahren begann, an der Universität Rechtswissenschaft zu studieren, gründete sie gleichzeitig eine Bewegung für die Rechte der Jus-Studentinnen. "In dieser Zeit gab es noch zahlreiche Gesellschaftsbereiche, zu denen Frauen nicht zugelassen waren", begründete sie ihre kämpferische Haltung.

Erste Anwältin Belgiens

Sie war dann auch die erste Frau, die in Belgien als Anwältin zugelassen wurde, und die erste Frau, die in einer Freimaurerloge, bis dahin reine Männerdomäne, Zutritt fand. Nach der Besetzung Belgiens durch deutsche Truppen wurde sie als Jüdin von der Anwaltsliste gestrichen. Kein anderer ebenfalls betroffener Anwalt wagte es wie sie, bei der Ratskammer gegen diesen Beschluss Berufung einzulegen. Ihre Bemühungen waren natürlich vergebens. Das spornte sie indes in ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus umso mehr an.

Das dunkelste Kapitel ihres Lebens wurde im Mai 1943 aufgeschlagen, als ihr Mann Lucien im Zuge einer groß angelegten Razzia der Gestapo verhaftet wurde und ins belgische Internierungslager Breendonk in der Nähe von Antwerpen gebracht wurde, während sie bereits mit ihrem zweiten Sohn schwanger war. "Das Wissen um die Geburt meines zweiten Sohns hat ihn sicher befähigt, die Leiden im Konzentrationslager besser zu ertragen", erzählte Orfinger später. Lucien wurde im Februar 1944, vier Monate nach der Geburt des Kindes, im Konzentrationslager erschossen.

Waffen versteckt

Régine übersiedelte in die Region Namur im Süden des Landes, wo sie erneut unter Lebensgefahr als erste Frau zur Kommandantin einer Partisanengruppe wurde, Waffen versteckte und gestrandeten Piloten der Alliierten zur Flucht verhalf.

Der damalige Kollaborateur der Nazis, der Führer des militanten Flügels der kommunistischen Partei, Paul Nothomb, hatte die große Verhaftungswelle ausgelöst, die das Kommando der Partisanenarmee und die geheime Führung der kommunistischen Partei beinahe auslöschte. In die Hände der Gestapo gefallen und der Folter ausgesetzt hatte er eingesehen, dass es unmöglich war zu schweigen. "Besser zu ,gestehen', als unendliche physische und psychische Qualen in den Folterkammern der Nazis zu ertragen", schrieb er nach dem Krieg, nunmehr Schriftsteller, in einem seiner Bücher mit Mut und Demut. "Seine Aussagen und der Tod meines Mannes gehörten zu der unvermeidbaren Tragödie der Geschichte der Widerstandsarmee gegen den Terror der Nazis", erklärte Régine Orfinger. "Sie ist gesäumt von Toten, von Leiden und von zerbrochenen Existenzen."

Für Rechte jüdischer Opfer

Kaum war der Krieg zu Ende, widmete sich Régine Orfinger-Karlin neuen kämpferischen Aufgaben. Wieder in die Rechtsanwaltskammer aufgenommen, verteidigte sie die Rechte jüdischer Opfer, plädierte für die Einbürgerung von Kindern jüdischer Eltern, die vor 1940 aus Deutschland, Österreich und Tschechien nach Belgien geflüchtet, dann aber selbst im Holocaust umgekommen waren. 1954 rief sie die von der deutschen Besatzungsmacht verbotene belgische Liga der Menschenrechte wieder ins Leben, die später mit der österreichischen Liga für Menschenrechte zusammenarbeitete.

Moralische Autorität

"Nirgendwo anders habe ich eine solche moralische Autorität wie Régine kennen gelernt", fasst Sabine Missistrano, 1978 ihre Nachfolgerin als Präsidentin der Liga der Menschenrechte, die Eigenschaften der "Grande Dame des Widerstands" zusammen. "Diese Frau war immer ihrer Zeit voraus."

Régine blieb streitbar. Mit dem von ihr gegründeten Komitee "Gleiche Arbeit - gleiches Gehalt" führte sie 1966 einen Streik von Arbeiterinnen an, die trotz gleicher Arbeitszeit weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen bekamen. Mit dem "Komitee für die Straffreiheit bei Abtreibungen" setzte sie sich erneut für Frauenrechte ein. Auf ihr Betreiben verabschiedete das Parlament ein Gesetz gegen den Rassismus.

Heuchlerisch . . .

"Es ist mir nur allzu klar", erklärte sie, "dass ein so reiches Land wie Belgien Menschen das größtmögliche Maß an Gastfreundschaft anbieten muss, die auf Grund ihrer politischen Einstellung verfolgt werden. Es ist auch gleichgültig, ob sie aus politischen oder ökonomischen Gründen hierher gekommen sind. Das ist nur eine heuchlerische Unterscheidung, schlecht durchdacht. Unser Land macht einfach nicht genug für Flüchtlinge. Das Prinzip der Ausweisung ist schändlich, einer Demokratie unwürdig. Es muss ohne Unterlass bekämpft werden."

Orfinger-Karlin-Preis

Der Kampf Régine Orfingers für Gleichheit und Freiheit wird auch nach ihrem Tod weitergehen. Seit 1996 verleiht die Belgische Liga für Menschenrechte alljährlich den "Régine-Orfinger-Karlin-Preis" für besondere Aktivitäten um Menschenrechte. "Ich bin optimistisch und habe den Eindruck, dass es immer junge Menschen geben wird", erklärte sie noch vor kurzer Zeit in einem Interview, "die sich befähigt fühlen, die Ideen der Freiheit zu verteidigen und Extremismus zu bekämpfen. Zu meiner Zeit war es nicht besser als heute. Die Sehnsucht nach Freiheit und Gleichheit existiert in dieser Generation ebenso wie in der vorangegangenen. Der Geist des Widerstands wird immer leben."