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Grandhotel am Zauberhügel

Von Irene Prugger

Reflexionen

Das 1908 eröffnete Hotel "Waldhaus" in Sils Maria (Schweiz) bietet Künstlern und Kunstbegeisterten einen inspirierenden Rahmen. Alljährlich wird auch ein Nietzsche-Symposium abgehalten.


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Es kann kaum einen schlichteren Namen geben für ein großes, berühmtes Hotel. Im Fall des altehrwürdigen Hotels "Waldhaus" in Sils Maria im Schweizer Oberengadin gehörte die Namensgebung von Anfang an zum Markenzeichen eleganten Understatements. Denn die Erhabenheit des Gebäudes zeigt sich allein schon in der Lage: Es thront als architektonisch bemerkenswerter Solitär der ausklingenden Belle Époque auf einem bewaldeten Hügel über Sils und dem Silser See.

140 Zimmer bzw. Suiten und eine Vielzahl weitläufiger Säle sagen etwas aus über die Größe, jedoch nichts über die geschichtsträchtige Vergangenheit. Davon erzählt die Einrichtung: Wie das äußere Erscheinungsbild präsentiert sich auch das Innere des Hotels weitgehend mit original historischem bzw. originalgetreu renoviertem Bestand - sowohl in den öffentlichen Räumen als auch in den Gästezimmern, von denen jedes anders aussieht. Jugendstilleuchten, ein selbstspielendes Welte-Mignon-Klavier, Relief-Stuckaturen und Original-Mobiliar aus dem Jahr 1908 sind nur einige der zierenden Kostbarkeiten. Auf Komfort braucht freilich niemand zu verzichten, er wird einem zeitgemäßen Fünf-Sterne-Haus mehr als gerecht.

Eine Art Zauberberg

Es ist eine Aufzählung wert, wer schon durch die großzügige Eingangspforte und die Drehtür mit der Aufschrift "A family affair since 1908" wandelte. In alphabetischer Reihenfolge: Theodor Adorno, Thomas Bernhard, Joseph Beuys, David Bowie, Marc Chagall, Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein, Peter Handke, Hermann Hesse, Erich Kästner, Otto Klemperer, Christoph Marthaler, Alberto Moravia, Elsa Morante, Max Reinhardt, Gerhard Richter, Rod Stewart, Richard Strauss, Richard Tauber, Luchino Visconti, Vicco von Bülow alias Loriot - um nur einige Berühmtheiten zu nennen.

Auch Thomas Mann hat hier gewohnt. Die Schreibtische in der Bibliothek, wo er gearbeitet hat, sind noch erhalten und für jeden Gast nutzbar. Man wagt es, sich auf seinen Platz zu setzen und spürt . . . zuerst einmal nichts, weil einen schon beim Betreten des Hotels eine traumwandlerische Faszination überkommt.

Dieser Laret-Hügel ist eine Art Zauberberg, allerdings ohne Sanatoriumscharakter. Mochten auch manche der hier verkehrenden Autoren asthmatisch gewesen sein, ihre Dichtung war es nicht, sie zeigte in vielen Fällen den langen Atem unvergänglicher Weltliteratur. Dieser Atmosphäre kann sich niemand entziehen. In den gediegenen Gemeinschaftssälen herrscht zeitweise eine Andächtigkeit wie in einer Kathedrale. Die Handys bleiben selbstverständlich auf stumm geschaltet. Zum Telefonieren stehen Kabinen bereit, intim und verschwiegen wie Beichtstühle.

Trotz der vornehmen Zurückhaltung - das Weltliche und seine Genüsse haben hier ausreichend Platz. Nach allen Regeln des guten Geschmacks, versteht sich. Hier kehren nicht jene wohlhabenden Zeitgenossen ein, die gerne klotzen und klunkern, es sind die anderen Wohlhabenden, jene, für die noble Zurückhaltung eine Frage von Stil- und Standesbewusstsein ist. Für Prunk und Glamour sorgt ohnedies das Hotel. Künstler sind allerdings nicht immer eine zurückhaltende Klientel. Schlägt die Lebensfreude doch manchmal über die Stränge, wurden hier schon Orgien gefeiert? "Selten", sagt Patrick Dietrich, der mit seinem Bruder Claudio seit zwei Jahren das Waldhaus führt und damit bereits die fünfte Generation der Besitzerfamilien vertritt. Zu besonderen Anlässen werde gern auch ausgelassen gefeiert, aber es sei allein schon das Haus, das einem Respekt abnötige. Stimmt. Man bremst sich automatisch ein, dämpft die Stimme, wenn man durch die breiten Korridore geht, das Geräusch der Schritte vom samtenen Royalrot der Teppiche verschluckt.

Spannung und Andacht

Ausgelassen schreiende Kinder? Hier kaum vorstellbar! Obwohl die Besitzer-Familien Dietrich und Kienberger sich mit ihrem Nachwuchs ganz selbstverständlich unter die Gäste mischen, vor allem, wenn sommers auf der Terrasse gegessen wird - untermalt von der Livemusik eines Klaviertrios aus Bratislava, das hier nun schon seit über dreißig Jahren bevorzugt Wiener Weisen und Walzer spielt. Den jüngeren Generationen gefällt es hier trotzdem.

Urs Kienberger, Onkel von Patrick und Claudio und zuständig für das Waldhaus-Kulturprogramm, meint dazu: "Das Waldhaus hat zwar in seinem ganzen Charakter etwas Altehrwürdiges, ja Ehrfurchtgebietendes, es hat unter seinen Gästen aber zugleich schon lange einen hohen Anteil an Familien mit Kindern und Jugendlichen. Dass der Hotelalltag diese zwei Welten nicht ohne Konflikte miteinander verbindet, ist nicht zu bestreiten und ist ein Stück weit auch durchaus gewollt. Müssten wir uns zwischen einem spannenden und einem andächtigen Haus entscheiden, wäre es nicht so sicher, dass unsere Reihenfolge die gleiche wäre wie im Alphabet."

Drei Standorte im Oberengadin hatte Hotelgründer Josef Giger zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sein Ferienhotel im Auge, das er vom Schweizer Architekten Karl Koller verwirklichen ließ: neben Sils auch das Suvretta-Gebiet und den Berghang oberhalb von Silvaplana. Giger, ein erfolgreicher Hotelier in St. Moritz und Perfektionist, konzipierte das Hotel und dessen Einrichtung mit akribischer Sorgfalt, von der Raumaufteilung bis zur Form des Essbestecks. Zunächst aber brauchte er den idealsten Standort und prüfte deshalb genau. Die exklusive Hügellage und die Aussicht nach allen vier Himmelsrichtungen sprach für die luftige Lage über dem Silser See, aber Giger wollte sichergehen und stellte deshalb an allen drei Orten Messgeräte auf. Temperatur, Sonneneinstrahlung, Windverhältnisse wurden exakt protokolliert.

Ließe sich auch die Konzentration geistiger Inspiration messen, wäre die Wahl wohl ebenfalls auf Sils gefallen. Gleich nebenan, am Fuß des bewaldeten Hügels, steht das hübsche, original erhaltene Nietzsche-Haus. Der Philosoph hat in Sils sieben Sommer verbracht, umrundete lustwandelnd oder zumindest über die Lust und ihren Ewigkeitsanspruch nachdenkend den See und schrieb hier wesentliche Teile seiner Werke, u. a. den zweiten Teil des "Zarathustra".

Er starb acht Jahre vor Eröffnung des Waldhauses, aber das Hotel fühlt sich ihm und dem philosophischen Geist, der über Sils schwebt, verpflichtet. Neben anderen hochrangigen Kulturveranstaltungen, in deren Genuss die Hotelgäste das ganze Jahr über kommen, wird im Waldhaus jährlich im September ein mehrtägiges Nietzsche-Kolloquium abgehalten.

Zum anregenden Ambiente, den exquisiten Gaumenfreuden und dem geistigen Proviant, der nicht nur für einen Urlaub, sondern eine ganze Lebensreise reicht, kommt die stimulierende Natur. Sils liegt zwischen Silser- und Silvaplanasee am Eingang zum romantischen Fextal. Der Winter ist lang hier, auf 1800 Meter Seehöhe, was besonders die Wintersportler freut. Das mondäne St. Moritz samt Pisten und Sporteinrichtungen ist nur ein paar Kilometer entfernt. Der Sommer am Silser See hingegen ist ein rasch vergehender, aber umso schönerer Traum: ein Meer von Weidenröschen am Seeufer, seltene Sumpfbrüter, die sich im Schilf Nester bauen, und ein sanft mäandernder Inn, der hier noch "Sela" heißt. Das Licht ist zu allen Jahreszeiten zauberhaft. Eine Landschaft, die auch sachliche Menschen poetisch werden lässt und begnadete Dichter zu besonders schönen Versen inspiriert.

Gemeinsam mit den Thermalquellen Graubündens, die den Tourismus beförderten, tat die Sogwirkung dieses Ortes von Beginn an ihre Wirkung. Und so kamen sie nach der Eröffnung des Waldhauses im Jahr 1908 von überall her auf Sommerfrische angereist, die reichen Erholungssuchenden, darunter vor allem Schweizer Geschäftsleute sowie italienische und russische Adelige. Allerdings, wie so oft bei Familiengeschichten, hatte die Historie ein wichtiges Wort mitzureden.

Schwere Zeiten

Der Erste Weltkrieg und die Depression stürzten das Hotel in eine Krise, es gab Wochen mit nur zehn Gästen im Haus. Die Wiedereinführung der Wintersaison ab dem Jahr 1924 brachte ein kurzzeitiges Hoch, bis der Zweite Weltkrieg ausbrach. Von den schweren Zeiten erholte sich das Waldhaus nur langsam. Weil das Geld knapp war, konnte man sich keine großen Umbauten leisten, weshalb man die 1950er und 1960er Jahre ohne Bausünden überstand. 1970 ließ Rolf Kienberger, der Großvater von Patrick und Claudio, ein Hallenbad anbauen, eines der ersten im Engadin. Die restliche Familie war dagegen, aber das Bad wurde von Otto Glaus mit soviel architektonischem Feingefühl umgesetzt, dass es mittlerweile als Sehenswürdigkeit gilt. Damals trug es dazu bei, das Hotelgeschäft wieder zum Florieren zu bringen, und es floriert noch immer.

Manche Gäste mieten sich für mehrere Wochen im Waldhaus ein, und viele Stammgäste kommen jedes Jahr. Als durchreisende Journalistin hat man nicht die Möglichkeit, so ausführlich die dynamische Wechselwirkung von gehobener Lebensart und Inspiration zu erkunden. Also noch eine Ehrenrunde durch die Drehtür, um die Kraft des Ortes aufzunehmen. Ein wenig magisches Denken kann auf einem Zauberberg nicht schaden!

34. Nietzsche-Kolloquium im Waldhaus von Sils Maria:
Jeden Tag von 26. 9. 2013 - 29. 9. 2013. Das Rahmenthema 2013 ist dem Satz Nietzsches "Alle Lust will Ewigkeit" gewidmet, aus dem Gedicht "Das trunkne Lied" in "Also sprach Zarathustra". Anmeldung im Waldhaus, 7514 Sils Maria.
Tel.: 0041.81.838.51.00;mail@waldhaus-sils.ch; http://www.waldhaus-sils.chNähere Infos und Führungen imNietzsche-Haus:Joachim Jung, 7514 Sils/Segl Maria;Tel.: 0041.81.826.53.69;nietzschehaus@hotmail.com; http://www.nietzschehaus.chIrene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Autorin und freie Journalistin in Mils in Tirol. Sie schreibt regelmäßig Beiträge für das "extra" der "Wiener Zeitung".