Finanzminister Karl-Heinz Grasser (V) wünscht sich innerhalb der EU mehr nationale Kompetenzen und "weniger Europa". Gleichzeitig plädiert er für eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die im Herbst beginnen sollen, sollten nach Ansicht Grassers verschoben werden.
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Grasser geht in einem Interview für die Montag-Ausgabe des "Standard" davon aus, dass die meisten Europäer die europäische Verfassung "nicht vermissen" würden. "Wenn niemandem die Verfassung abgeht, brauchen wir sie dann?", fragt der Finanzminister. Er glaubt, dass darin die falschen Prioritäten gesetzt wurden. Man sollte sich angesichts 19 Millionen Arbeitsloser mehr auf Wachstum und Beschäftigung konzentrieren. Außerdem sieht er eine Tendenz in Richtung bundesstaatlicher Struktur und europäischer Zentralregierung. "Hier ergibt sich eine Kluft zwischen Bevölkerung und Politik. Ich glaube, die Bevölkerung will keine europäische Zentralregierung." Deshalb sieht Grasser das Nein der Franzosen und der Niederländer auch als Chance, die rechtsstaatliche Struktur zu diskutieren.
"Mein Ansatz wäre, wieder zu stärkeren nationalen Befugnissen zu kommen, dort, wo es Sinn macht. Niemand will ein bürokratisches Europa", sagt Grasser. Und weiter: "Wir brauchen weniger Europa. Die Unterstützung der Bevölkerung gewinnt man dann, wenn man mit Hausverstand erklären kann, wo man Europa braucht und wo nicht. In der Sicherheitspolitik braucht man Europa, in der Außenpolitik, in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Das wird jeder verstehen. Richtlinien und Verordnungen, die in jeden Lebensbereich hineingehen, brauchen wir sicher nicht." Es gebe eine Fülle von Befugnissen auf europäischer Ebene, "die besser in den Mitgliedsstaaten geregelt werden könnten. Wenn man dieses Europa nicht von unten baut, dürfen wir uns nicht wundern, dass die Verbindung zwischen Bürgern und der politischen Ebene einfach verloren geht."
In den Bereichen, in denen Europa nötig ist, will Grasser das Einstimmigkeitsprinzip zurück drängen. "Meine Sorge ist, dass die Reformgeschwindigkeit in Europa massiv darunter leiden könnte, wen man nicht zu leichteren und schnellgängigeren Mehrheitsentscheidungen kommt. Wenn weiterhin wesentliche Politikbereiche dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen, bleiben Entscheidungsmechanismen langwierig. Wir müssen weg vom Einstimmigkeitsprinzip und zwar dort, wo es ein gemeinsames Europa braucht." Gleichzeitig wünscht sich der Finanzminister auch die Möglichkeit für eine gesamteuropäische Volksabstimmung. Dazu sollte es auch eine "doppelte Mehrheit" geben, es müsste also auch die Mehrheit der Länder zustimmen.
Die Beitrittsverhandlungen mit Türkei will Grasser verschieben. Die Türkei erfülle weder wirtschaftlich, sozialpolitisch, noch in Bezug auf die Menschenrechte die Kriterien. "Die Türkei liegt zu einem großen Teil in Asien, das ist auch kulturell eine neue Dimension, die man an Bord nehmen würde." Der Finanzminister fragt sich, ob es für die EU nicht wesentlich wichtiger wäre, über Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Kosovo und Albanien zu diskutieren. "Und wo endet die EU in 20 Jahren, wenn man bereit ist, die Türkei hereinzunehmen? Geht das bis zur Ukraine und Russland? Wenn sich 20 oder 25 Mitgliedsstaaten so schwer einigen können, werden sich 35 oder 40 einigen? Ich halte die Türkei-Ebatte für einen ganz schweren Fehler der europäischen Integrationspolitik."