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Gratis-Interrail als Kitt für Europa

Von Hannah Greber

Politik
Martin Speer beim Interview am Wiener Nordbahnhof-Gelände.
© Kevin Yang

Im Sommer konnten 15.000 Jugendliche gratis per Interrail Europa erkunden. Bis 2027 sollen es 1,5 Millionen werden.


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Wien. Sie treffen sich vor einem der Lieblingsrestaurants des Autors Robert Menasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk: dem "Gasthaus zum Sieg". Doch der Koch ist krank, und die drei - Vincent-Immanuel Herr, Martin Speer und Robert Menasse - weichen auf das Lokal "Schöne Perle" aus. Braune Holzstühle, grau-gesprenkelte Fliesen, der Geruch von Schnitzel in der Luft und Bier auf dem Tisch - die Szenerie für die Entstehung einer Idee vor mittlerweile vier Jahren, die 2018 den Sommer von 15.000 Jugendlichen prägen sollte.

Wien war der vorletzte Stop der Interrail-Reise des Aktivistenduos Herr und Speer aus Berlin. Bei besagtem Abendessen mit Menasse erzählten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer dem Buchautor von den Erfahrungen ihrer Reise. Davon, dass nur ein kleiner Prozentsatz der Jugendlichen von Europa profitiert, nur wenige die Europäische Union (EU) begreifen und entdecken können, und von dem ganz persönlichen Gefühl, nach der Reise Europäer zu sein.

Auf den alten Gleisen des Nordbahnhofes, nicht weit weg von der "Schönen Perle", erzählt Speer der "Wiener Zeitung" in einem Interview, dass dieses Gespräch die Grundlage für die Idee war: "Wieso können nicht alle jungen Europäerinnen und Europäer diese Erfahrung machen?"

Europa auf der Normalspur

Was 2014 mit einem Gedankenspiel begann, wurde im Juni 2018 teilweise Wirklichkeit. Mit dem gratis Interrailticket #DiscoverEU hatten im Sommer 15.000 Jugendliche, darunter 257 aus Österreich, die mit Stichtag 1. Juli 18 Jahre alt waren, die Möglichkeit, Europa zu erkunden. 12 Millionen Euro nahm die EU für die Pilot-Runde des Gratis-Interrailtickets in die Hand. Aber wieso?

Es ginge darum, die europäische Einheit zu stärken, erklärt Speer. Durch das gemeinsame Reisen auf den Schienen der europäischen Spurweite Normalspur, das Knüpfen von Kontakten und das Überwinden von Grenzen könne man Jugendliche für Europa begeistern. Zudem soll eine breite Masse mit der Initiative erreicht werden: "Ich glaube, die EU krankt daran, dass sie vielfach als ein Elitenprojekt wahrgenommen wird. Und daran, dass gerade viele junge Menschen nicht die Möglichkeit haben, die EU selbst zu erfahren, zu sehen, was Europa bedeutet, was Zusammenhalt heißt", erklärt Speer. Tatsächlich kommen bislang viele Möglichkeiten, die die EU bietet, nur wenigen zugute.

Die meisten Jugendlichen der Generation Y, also derjenigen, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden, und der darauf folgenden Generation Z sind mit dieser Reise- und Mobilitätsfreiheit aufgewachsen. Diese Reisefreiheit ist eine der Besonderheiten der EU, und in dieser Form weltweit einzigartig. Zwei Abkommen tragen dazu bei, dass Europäer sich auf dem Kontinent weitestgehend frei bewegen können. Auf der einen Seite regelt das Schengen-Abkommen seit 1995 die Reisefreiheit. Europäern ist es durch dieses Abkommen erlaubt, sich innerhalb der EU weitgehend ohne Grenzkontrollen zu bewegen. Durch den Artikel 45 des Vertrages der Arbeitsweise der Europäischen Union können EuropäerInnen zusätzlich in einem anderen Mitgliedsstaat leben und dort ohne Arbeitserlaubnis einen Job annehmen.

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Die Statistik von Eurostat zeigt jedoch, dass nur wenige von diesen Abkommen profitieren. Ungefähr 3,9 Prozent - also vier von hundert - aller arbeitsfähigen Europäer ziehen für einen Job in ein anderes europäisches Land. Nur 0,6 Prozent - also sechs von tausend - aller arbeitenden Menschen sind Grenzgänger, arbeiten also in einem anderen Land als sie wohnen. Und nur 3,7 Prozent - circa vier von hundert - aller Jugendlichen profitieren von Austauschprogrammen wie Erasmus+, von dem Studenten, Jungunternehmer und Schüler profitieren (Teil von Erasmus+ ist auch ein Programm einer europaübergreifenden Erwachsenenbildung). Die zahlreichen Möglichkeiten, die durch besagte Abkommen geschaffen wurden, werden nur teilweise angenommen.

Leben nach Interrail

Es ist windig auf den Gleisen des Wiener Nordbahnhofes. Martin Speer zieht sich eine schwarze Kappe über den Kopf und blinzelt in die Sonne. Reisen, für einen Job umziehen oder ein Auslandssemester zu absolvieren kostet Geld. Und Geld haben wenige Jugendliche selbst.

Das Ticket soll deshalb ein Anstoß für alle jungen Menschen sein, Europa zu erleben. "Wir wollen, dass wirklich alle jungen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Bildung und ihrem Geschlecht die Möglichkeit haben und schätzen lernen, was diese europäische Einheit bedeutet, warum sie so wertvoll ist und warum wir sie verteidigen müssen. Wir wollen es schaffen, wirklich jeden und jede zu erreichen."

Ob wirklich jede und jeder mit diesem Projekt erreicht wird, hinterfragt Evelyn Regner, Delegationsleiterin der SPÖ im Europaparlament. Das Projekt #DiscoverEU ziele auf privilegierte Jugendliche ab, die auch ohne dieses Ticket Europa bereist hätten. "Verantwortungsvolle Politik muss auch das Leben nach der Interrail-Party im Blick haben", meint Regner und verweist auf die hohe Jugendarbeitslosenquote. Sieben Millionen Jugendliche seien in Europa arbeitslos. "Angesichts dieser Zahlen wirkt es fast zynisch, dass man solche Summen für eine Interrail-Lotterie ausgibt, wenn wir das Geld eigentlich dringend für Beschäftigungsinitiativen und den europäischen Sozialfonds brauchen", kritisiert die Sozialdemokratin.

Die Aktivisten Herr und Speer sehen das Gratis-Interrailticket als Türöffner zu Erasmus und anderen Programmen. Deshalb habe man sich bewusst dafür entschieden, ein unkompliziertes Projekt mit geringen Hürden auf die Beine zu stellen. Über den Erfolg der Initiative waren die Aktivisten selbst überrascht. "Dieses Projekt würde es nicht geben, wenn es Europa derzeit nicht so schlecht ginge" so Speer und spielt damit auf einen "Europablues" an, der sich durch den Brexit oder die Ablehnung der EU in Polen und Ungarn immer klarer zeige. Die Europaabgeordnete Regner meint, man müsse mit dem limitierten Budget Programme unterstützen, die Europas Zukunft wirklich sichern: "Zugtickets gehören da wohl eher weniger dazu."

Studentin Lena Wocelka war mit #DiscoverEU unterwegs.
© K. Yang

Diesen Sommer waren die ersten Jugendlichen mit dem #DiscoverEU-Ticket auf Europas Schienen unterwegs. Unter ihnen war die Wiener Studentin Lena Wocelka. "Ich habe nette Leute kennengelernt, mit denen ich mich später wieder getroffen habe. Die Einheimischen sind meistens sehr aufgeschlossen, und es gibt so viele wunderschöne Orte in Europa", so Wocelka über ihren Trip. Am Morgen des ersten Tages der Bewerbungsfrist wurde Wocelka von ihrer Mutter aufgeweckt, um die online Bewerbung auszufüllen. Denn um ein Ticket zu gewinnen, muss man zuerst fünf Fragen in einem Online-Fragebogen richtig beantworten.

Danach werden die Tickets nach dem "Windhundverfahren" vergeben - also first come, first serve. Maximal vier Ländergrenzen innerhalb von 30 Tagen dürfen mit dem Ticket überschritten werden. Aufgaben haben die Jugendliche neben dem Reisen auch: Unter dem Hashtag #DiscoverEU sollen sie auf Sozialen Medien von ihrer Reise berichten. Wocelka reiste alleine durch Europa: "Ohne dieses Ticket hätte ich mich das nicht getraut." Deshalb wisse sie auch die Facebook Gruppe #DiscoverEU zu schätzen, die von der Europäischen Kommission verwaltet wird und die den Jugendlichen die Möglichkeit gibt, sich während der Reise zu vernetzten.

Für all jene, die es in der ersten Runde nicht geschafft haben, ein Ticket zu ergattern, gibt es gute Neuigkeiten: Am 29. November öffnet eine zweite Bewerbungsrunde für 12.000 Jugendliche, die bis zum 31. Dezember 18 Jahre alt und Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates sind. Die Interrail-Pässe, die vergeben werden, sind dann zwischen 15. April und 31. Oktober 2019 gültig.

Für ein neues Netzwerk

Die EU-Kommission will das Projekt weiter ausbauen. Wenn das Parlament und die EU-Staaten zustimmen, dann werden zwischen 2021 und 2027 700 Millionen Euro bereitgestellt, damit 1,5 Millionen Jugendliche die Möglichkeit haben, die Reisefreiheit in Europa persönlich zu genießen. Doch das Ziel sei es, allen 18-Jährigen diese Chance zu bieten.

Wie würde die EU in zehn Jahren mit einem solchen Ticket aussehen? Martin Speer: "Europa wäre ein anderes Europa, weil eine ganze Generation vereint wäre durch eine Erfahrung, eine Reiseerfahrung, eine Erfahrung die Freundschaften schließt und Grenzen überwindet, und das würde ein ganz anderes Fundament für die europäische Einigung schaffen."

Future Challenge

Bereits zum dritten Mal veranstaltet die "Wiener Zeitung" den Schüler-Video-Wettbewerb #futurechallenge.

Dieses Mal sucht die "Wiener Zeitung" den besten EU-Wahlspot, der auch die größten Skeptiker dazu bringt, bei der EU-Wahl im Mai 2019 teilzunehmen. Zugleich bietet die "Wiener Zeitung" den Leserinnen und Lesern einen Blick auf Europa aus einer dezidiert jungen Perspektive: In
einer achtteiligen Serie werden jugendrelevante Europathemen behandelt. Alle weiteren Informationen plus das Video zur Story auf: www.wienerzeitung.at/futurechallenge