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Grauen, Gruseln, Gänsehaut

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

"Ach, wenn mirs nur gruselte!", klagte der Junge, der auszog, das Fürchten zu lernen. So erzählten die Gebrüder Grimm anfangs des 19. Jahrhunderts. Heute könnte ihm geholfen werden.


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Flackernde Nebel wabern über glucksenden Moorgewässern, der fahle Mond spiegelt sich in kleinen Lacken zwischen faulen Gräsern und beinfarbenem Wollgras, gespenstische Schatten begleiten lautlos den irrenden Wanderer. Über die Elbmarsch kriechen Dunstschwaden, in denen kahle Obstbäume Schatten werfen, als seien sie Kreuze auf einem Soldatenfriedhof. Die beklemmende Stille wird nur ab und zu durch das Quaken des Moorfrosches zerrissen.

Die Elbe flussabwärts Richtung Nordsee mit dem Schiff bis Wedel, mit der Fähre nach Lühe ans Westufer übersetzen und dann in diese geheimnisvolle, fremde Landschaft eintauchen - ins Kehdinger Land zwischen der Elbe und der Oste.

Das Leben der ersten Siedler hier war hart und gefährlich. "Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod" - der Spruch bezeichnet die Mühen und Qualen der Generationen, die den ausgedehnten Moorlandschaften und Sümpfen Land abgerungen hatten, auf dem sie ihre Katen aus Torf bauen oder Buchweizen pflanzen konnten. Durch die intensive Entwässerung liegt die Gegend heute teilweise unter dem Meeresspiegel, von der nahen Flut geschützt durch zahlreiche und end-lose Deiche.

Makabre Scherze erzählt man sich hier über die hohe Selbstmordrate unter den Marschländlern; "durch den Strick gucken" nennt man hier die vorwiegende Methode, ihrer Melancholie ein Ende zu setzen. Es soll hier aber auch Leute geben, die eines natürlichen Todes sterben.

Seit einiger Zeit geschehen hier allerdings mehr Morde und andere Gräueltaten als irgendwo anders in Deutschland. Kurios daran ist nur, dass dieser Horror die Menschen nicht nur nicht abschreckt, sondern sie geradezu verführt, die Gegend zu besuchen. Ja, man macht damit sogar Werbung.

So heißt es im Internet: "Nirgendwo in Deutschland sind mehr Krimis und Krimi-Drehbücher geschrieben worden als hier: In Kehdingen und an der Oste, in dem vergessenen Land im Norden Niedersachsens, zwischen Deichen und Leuchttürmen, zwischen Elbe und Weser." Und an anderer Stelle: "Kaum irgendwo sonst spielen zugleich mehr Krimis als in dieser sonderbaren Gegend zwischen Moor und Meer." Die Zahl der Kriminalromane, Thriller und Drehbücher für TV-Krimis ist dreistellig. Allein für Serien wie "Der Alte", "Tatort" oder "Derrick" entstanden hier in einer alten Bauernkate mehr als 200 Filmmanuskripte. Autoren, die sich von dem Landstrich und seinen Bewohnern inspirieren ließen oder von hier stammen, sind etwa Elke Loewe, Volker Vogeler, Jürgen Petschull, Sebastian Knauer, Willi Voss, Reinhold Friedl, Thomas B. Morgenstern und Wilfried Eggers.

Die Idee der "Deutschen Krimistraße" kam auch bei den Medien an. Die Titelzeilen überschlugen sich: "Deutschlands Krimi-Mekka", "Ein Nest von Giftmischern und Meuchelmördern", "Straße zum Jenseits", "Mord liegt in der Luft", "Ein gruseliges Land", "Eine verwunschene Gegend".

Inzwischen besteht das Projekt Krimiland schon fünf Jahre. Elke Loewe arbeitet an einer Anthologie mit dem Titel "Mord im Moorexpress", die in der Johannisnacht, am 24. Juni, bei einer nächtlichen "Gruselfahrt" mit dem Moor-express vorgestellt werden soll. Und im Sommer soll ein Sammelband mit Texten von etwa Rainer Maria Rilke, Hermann Löns und Manfred Hausmann erscheinen: "Fahrt im Moorexpress und andere aus dem Torf gegrabene Geschichten."

Übrigens: Wenn im Sommer die Obstbaumblüte die Landschaft bemalt und verzaubert, kann man bei Kehdinger Krimis immer noch das Fürchten lernen.

Markus Kauffmann, seit 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.