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Vorige Woche wurde von einer amerikanischen Mutter berichtet, die mittels Überwachungskamera eines Waschsalons überführt worden war, wie sie ihr zweijähriges Kind in die Trommel einer Waschmaschine gesteckt hatte. Sie wäre so genervt gewesen, hätte sie der Polizei gegenüber angegeben, war weiter zu lesen, und sie hätte das Kind nur schrecken wollen, die Maschine hätte sich dann von selbst eingeschaltet... Ein Kind - oder wen auch immer - "schrecken" zu wollen, ist schon arg genug, meine ich. Jemand schrecken heißt ja, ihn oder sie in Distress zu versetzen, also eine negative Stresshormonausschüttung auslösen zu wollen und das bedeutet sowohl leiblich wie seelisch Gewalt und bleibende Gedächtnisspuren im Gehirn. Üblicherweise wird man dadurch zum "Nerverl" - oder zum "Härtling": man ist - wie schon das Wort in der Grundbedeutung aussagt - abgebrüht".
Zu diesem Vorkommnis interviewte mich ein Fernsehteam von ATV: wie es zu solch einer Untat kommen könnte, wollten sie wissen, was das denn für eine Mutter wäre... und ich meinte, entweder sei sie sehr dumm oder sehr grausam. Wir vergessen nur zu oft, dass nicht jeder Mensch über den "durchschnittlichen" Intelligenzquotienten von 100 Punkten verfügt. Um zu maturieren, schätze ich, braucht man schon zwischen 110 und 120. In Stress-Situationen neigen wir aber alle dazu, unser "vernünftiges" Großhirn-Denken auf aktionistisches Stammhirn-Niveau abzusenken. Genau deswegen plädiere ich ja seit Jahren dafür, schon im vorhinein Verhaltensmöglichkeiten für zu erwartende Stress-Situationen einzuüben - und zwar nicht nur für solche im Beruf, sondern auch für solche im Privatbereich.
Immer wenn es chaotisch wird, brauchen wir als "Gegengewicht" Struktur - Regeln etwa, oder Ordnungsprinzipien oder auch eine kompetente - bitte auch sozial kompetente! - Person, die das Kommando übernimmt. Darauf basiert ja die Befehlskultur in militärischen oder paramilitärischen Berufen, aber auch im Operationssaal. Wenn der "Herr" Chirurg, der im OP selbstverständlich "Haken!", "Schere!", "Tupfer" bellen darf, ebenso im Sozialraum "Kaffee!" oder "Kipferl!" ordern würde, würde er sich sozial disqualifizieren...
Soziales Verhalten ist uns leider nicht schon mit in die Wiege gelegt, wir müssen es erst erlernen und manchmal braucht es dazu fast schon Dressur. In der Schule beispielsweise üben wir "Feueralarm". Andere Trainings wie etwa für Bombendrohungen, Überfälle, Geiselnahmen fehlen weitgehend; nur im Flugverkehr zählen sie zum Standardausbildungsprogramm.
Chaos entsteht meist in Situationen von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Diese können durch aktive Gewalt ausgelöst werden, aber auch durch Vernachlässigung. So wurde dieser Tage eine 26jährige Mutter zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie ihren fünfjährigen Sohn fast verhungern ließ, der Kindesvater zu 18 Monaten, davon sechs unbedingt, sowie die im selben Haushalt lebende Großmutter zu 15, davon fünf unbedingt. Ob sie alle im Gefängnis lernen werden, welche Struktur das Aufziehen eines Kindes braucht?
Zwar ist der Gefängnisalltag hoch strukturiert und damit auch für regelmäßige Nahrungsaufnahme gesorgt - aber reicht das schon als Modell? Wäre nicht ein "Fürsorge-Training" in einem Heim (egal ob für Kinder, kranke oder alte Menschen) zielführender? Grausamkeit erlernt man anhand erlebter Grausamkeiten, Zuwendung anhand von erfahrener Zuwendung. Und durch Strafe lernt man strafen. Aber: Die rechtliche Voraussetzungen zu solchen pädagogisch sinnvollen "Auflagen" gäbe es ja...
Die Frage ist, ob wir nicht alle als "die Gesellschaft" gerade in unserer Zeit der Glorifizierung von Unabhängigkeit, Singletum und Ego-Trips Sorge und Sorgfalt füreinander eintrainieren sollten? Es sind ja nicht nur die Kinder, die Opfer von Gewalt und Vernachlässigung werden, sondern alle, die nicht dem Bild der wehrhaften "beautiful young people" entsprechen.