Zum Hauptinhalt springen

Greenspan knöpft sich Europa vor

Von Engelbert Washietl

Kommentare
Der Autor ist Vorsitzender der "Initiative Qualität im Journalismus"; zuvor Wirtschaftsblatt, Presse, und Salzburger Nachrichten.

Der alte Wahrsager des Kapitalismus erklärt die ganze Welt. Die Europäer passen prima in sein Lehrbuch. Er hält sie mit Ausnahme der Briten für marxistische Sozialromantiker. | Wir Europäer alterieren uns gern über die kaltschnäuzigen Globalisierer und Sozialkannibalen der neuen Welt. Hören wir ausnahmsweise zu, was von der anderen Seite des großen Atlantiks kommt. Alan Greenspan, der 18 Jahre lang die US-Notenbank geleitet hat, ist mit seinen 81 Jahren ein geradezu idealer, weil holzschnittartiger Dialogpartner.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

In seiner Autobiografie "Mein Leben für die Wirtschaft" beschäftigt sich Greenspan hauptsächlich mit den USA, dann kommt lange nichts und dann - falls sich nicht Indien oder China einschieben - doch auch Europa. Diese Reihenfolge ist stringent, einen zur Gesundung der Weltwirtschaft erforderlichen reinen Kapitalismus findet Greenspan nach eigenen Angaben nur in den Vereinigten Staaten.

Sobald sich der geachtete Autor mit Sozialpolitik beschäftigt, gleitet er problemlos von "sozial" zu "sozialistisch" ab, und danach liegt der Marxismus gleich ums Eck. In diesem Umfeld ortet er alle strukturellen Probleme, die die Eurozone auch in Zukunft haben werde. "Geschichte und eine Kultur der Bürgergesellschaft werden nicht ausreichen, um die Wirtschaft des Euro-Raums und der Europäischen Union voranzubringen."

Greenspan stößt allerdings auch auf heldenhafte Ausnahmen. Die frühere britische Premierministerin Margret Thatcher ist sein europäisches Idol. Der deutsche Wirtschaftswunderchef Ludwig Erhard verkörpert für ihn einen Oldie einer vernünftigen, nämlich deregulierenden Wirtschaftspolitik.

Da verblasst hinter dem unnachsichtigen Blick des Neoliberalen sogar sein amerikanischer Patriotismus, wenn er konstatiert, dass der Marshall-Plan allein den Wiederaufbau Europas nicht bewirken konnte - die zwölf Milliarden Dollar waren "viel zu gering": "Meines Erachtens war die Freigabe der Produktion und der eingefrorenen Preise im Jahr 1946 durch den westdeutschen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard der bei weitem wichtigste Impuls für den westeuropäischen Nachkriegsaufschwung."

Ist Greenspan, von unserem Europa aus gesehen, bloß ein wirtschaftspolitischer Alien? Wer in Rechnung stellt, dass in Österreich soeben eine Kommission zur langfristigen Pensionssicherung nicht wagte, über die Pensionsreform nachzudenken, müsste dank Greenspan unruhig werden. "Die wirtschaftlichen Aussichten des restlichen Europa (Anm.: ohne Großbritannien) werden so lange unklar bleiben, wie man dort nicht erkennt, dass der Sozialstaat nicht funktionieren kann, wenn seine Finanzierung auf steigende Bevölkerungszahlen angewiesen ist."

Greenspan bricht nicht den Stab über Europa, und weil er sein Buch auch hier gut verkaufen will, fügte er eine "Vorrede für die Euroländer" hinzu, in der er den Euro-Erfolg als "beispiellos" rühmt.

Danach zeigt er freilich sein intaktes marktwirtschaftliches Gebiss, wo immer es geht. Etwa wenn er beglückt feststellt, sogar im Euro-Raum werde nach Möglichkeiten gesucht, Rentenzahlungen zu senken und Arbeitsgesetze zu lockern. Er sieht in England Tony Blair und neuerdings Gordon Brown recht brav entlang der von Thatcher durch den sozialen Wald geschlagenen Schneise vorankommen.

Verzeihen wir ihm, dass er auf Seite 540 die Lissabon-Strategie der EU dem Europarat zuschreibt, wer soll sich denn in der europäischen Institutionen-Vielfalt schon auskennen. "Die in vielem sehr ähnlichen wirtschaftspolitischen Auffassungen von Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und Gordon Brown machen einen europäischen Aufschwung wahrscheinlicher."

Na bitte - so marxistisch ist Europa also gar nicht mehr.