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Schwer zu sagen, ob dem amerikanischen Notenbankchef Alan Greenspan die alarmierenden Wirtschaftsdaten, die wachsende Kritik oder einfach das Alter weitere Sorgenfalten ins Gesicht getrieben haben. Jedenfalls sieht man den 75-Jährigen in diesen Tagen selten ohne tiefe Runzeln auf der Stirn. Heute, Dienstag, trägt er unter den Augen der Weltpresse wieder seine verbeulte Aktentasche mit den Zinsempfehlungen in die Notenbankzentrale in Washington.
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Doch Händler und Märkte reagieren kaum noch auf das, was Greenspan der siechenden US-Wirtschaft wahrscheinlich erneut verordnen wird: eine Zinssenkung. Weil die neun Zinsschnitte dieses Jahres praktisch keine Wirkung zeigten, hat Greenspan den Nimbus des Finanzgenies eingebüßt.
Früher, da hielten die Börsenhändler den Atem an, wenn die Notenbank um Punkt 20.15 MEZ ihre Zinsentscheidung veröffentlichte. Jede Äußerung Greenspans, seine Gesten und sein Blick wurden analysiert und konnten Märkte bewegen. In den 90er Jahren dirigierte Greenspan die Wirtschaft als Fed-Chef zum längsten Wirtschaftsboom der US-Geschichte. Im Jänner 2000, nach fast einem Jahrzehnt ununterbrochenen Wachstums, war Greenspan auf dem Zenit seiner Karriere. Er wurde mit überwältigender Mehrheit für eine vierte Amtszeit bestellt. Der Vorsitzende des Bankenausschusses im Senat, Phil Gramm, rühmte ihn als "größten Notenbanker aller Zeiten".
Doch seit Mitte vergangenen Jahres ist alles anders. Greenspan habe das Ende des Technologiebooms zu spät gesehen und die Kehrtwende in der Zinspolitik Anfang dieses Jahres zu spät vollzogen, lautet der Hauptvorwurf. Seitdem läuft nichts mehr so wie vorher. So aggressiv wie nie zuvor hat Greenspan die Leitzinsen zurückgenommen. Doch die Unternehmer ließ die Gelegenheit günstiger Neuinvestitionen kalt - die Lagerbestände aus den Boomjahren waren zu groß, die in Zeiten des Börsenbooms angehäuften Schulden zu hoch.
Weil die Medizin nicht wirkt, steht der Arzt am Pranger. War Greenspan während der Boomjahre jedermanns Darling und sein Rat in allen wirtschaftlichen Lebenslagen gesucht, werfen Senatoren und Volkswirte ihm heute vor, auf zu vielen Hochzeiten zu tanzen. Dabei drängt Greenspan nicht von selbst ins Rampenlicht. Der Fed-Chef gibt so gut wie keine Interviews, und seine verklausulierte Redeweise eignet sich nicht für Schlagzeilen. Die Senatoren selbst und vor allem US-Präsident George W. Bush suchen bei dem erfahrenen Notenbanker Rat, etwa zur Beurteilung geplanter Steuersenkungen oder dem gerade diskutierten Konjunkturpaket. dpa