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Greenspans Stern sinkt -Aber der Fed-Chef will im Wahljahr weitermachen

Von Christiane Oelrich, Washington

Wirtschaft

Lang, lang ist's her, dass Analysten und Wall-Street-Banker mit der Computermaus im Anschlag saßen, wenn US-Notenbankchef Alan Greenspan das Wort ergriff. Früher hingen sie gebannt an seinen Lippen, weil jedes Wort des mächtigen Fed-Bankers die Märkte beben lassen konnte. Doch hat der Sockel, auf den Verehrer den inzwischen 77-Jährigen gehoben haben, in den vergangenen Monaten erhebliche Risse bekommen.


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"Es sieht so aus, als klebe Greenspan, der vor wenigen Jahren im Triumph hätte gehen können, zu lange am Job", schrieb Allan Sloan in der Zeitschrift "Newsweek". "Früher hat jeder zugehört, jetzt schaltet man ihn ab." Trotz immer unverhohlenerer Kritik denkt Greenspan nicht ans Aufhören. Im April, als er sich gerade von einer Prostataoperation erholte, bot US-Präsident George W. Bush ihm eine weitere Amtszeit an. Greenspan sagte noch vom Krankenbett aus zu.

Für Bush ist das eine feine Sache. Kein Präsident möchte die Finanzmärkte im Wahljahr mit einem Personalwechsel an der Spitze der wichtigsten Zentralbank der Welt verunsichern. Zumal die Fußstapfen von Greenspan bei aller Kritik ziemlich groß sind. Greenspan wurde jahrelang als unumstrittener Maestro der internationalen Finanzwelt gefeiert. Eine ganze Generationen von Wall-Street-Bankern ist mit ihm im Chefsessel der Notenbank groß geworden. Der Banker beherrscht die amerikanische Geldpolitik an der Spitze der Notenbank seit 1987.

Ob Greenspan sich und seinem legendären Ruf mit einer weiteren Amtszeit allerdings einen Gefallen tut, steht auf einem anderen Blatt. Den Zenit seiner Karriere habe Greenspan mit dem scharfen Einbruch der US-Konjunktur Ende 2000 überschritten, meinen Analysten. Bis dahin galt Greenspan als Finanzgenie schlechthin, das mit unfehlbarem Instinkt und der perfekten Zinsdosis den längsten Aufschwung der US-Geschichte fast im Alleingang bewerkstelligte.

Die Kritik begann mit dem Konjunktureinbruch. Erst hieß es, Greenspan habe das Ende des Technologiebooms Ende der neunziger Jahre zu spät erkannt und mit Zinserhöhungen zu spät reagiert. Dann wurde dem Chairman das Schneckentempo des Aufschwungs nach der milden Rezession 2001 zur Last gelegt. Auf die letzten der elf Leitzinssenkungen des Jahres reagierten die Märkte kaum noch. Im zu Ende gehenden Jahr trat sogar das Gegenteil ein: die Fed senkte die Leitzinsen am 25. Juni auf 1,0%, aber am Markt stiegen die Zinsen. Die Bondhändler fühlten sich durch kryptische Deflationsformulierungen in der Fed-Erklärung auf eine falsche Fährte gelockt. "Ein Missverständnis", beschied die Notenbank eilig, aber Greenspans Ruf nahm weiter Schaden. "Das hat an der Glaubwürdigkeit der Fed gekratzt", schrieb die Zeitschrift "Business Week".

Auch im Kongress kann Greenspan nicht mehr so wie früher punkten. Republikaner nutzten den Fed-Chef und seine Geldpolitik hinter vorgehaltener Hand als Ausrede für den schwerfälligen Aufschwung. Demokraten wünschen sich schärfere Kritik an Bushs Steuersenkungen und dem ausufernden Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit. "Mir wäre eine Situation lieber, in der Steuersenkungen ohne fiskalische Probleme durchgeführt werden können", sagte Greenspan vorsichtig. "Und mir wäre eine Welt lieber, in der mich Julia Roberts anruft", erwiderte der Demokrat Bradley Sherman genervt. "Aber die Aussicht darauf ist gering."