Als in den 70er Jahren eine Supermarktfiliale nach der anderen aus dem Boden gestampft wurde, begann das viel zitierte Greißlersterben. Konsum, Billa, Merkur, Spar, Hofer & Co. wetteiferten in der Folge mit immer größeren Geschäftsflächen und einer noch größeren Auswahl um Kunden. Doch mit besonderem Einsatz und Geschick konnten sich einzelne Greißler behaupten.
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Der Ausdruck "Greißler" leitet sich von "greißeln" ab, was soviel heißt wie "greifen, fassen". Der Unterschied zum Supermarkt könnte nicht größer sein: Der Greißler nimmt alle Waren zuerst selbst in die Hand, bevor er sie dem Kunden gibt. Nicht überall ist diese Bezeichnung unter den selbstständigen Kaufleuten beliebt: "Steirische Lebensmitteleinzelhändler lehnen (im Gegensatz etwa zu ihren Wiener Kollegen) diese Bezeichnung für ihren Berufsstand bzw. ihr Geschäft fast ausschließlich ab", schreibt Leopold Strobl in seiner Doktorarbeit über diesen Berufsstand.
Als "teuer, schmuddelig und nicht mehr zeitgemäß" wurden Greißlereien in Stadt und Land oft verunglimpft. Wenn aber wieder ein solches Geschäft seine Rollbalken für immer herunterließ, machte sich meist Bedauern breit - gab es doch auf einmal eine Lücke in der Nahversorgung und einen Treffpunkt sowie eine zentrale Ansprechperson in der unmittelbaren Umgebung weniger. Eine dieser "Inseln der Menschlichkeit" betreibt ein Kaufmann im dritten Wiener Gemeindebezirk, der wie seine Vorfahren hauptsächlich Obst und Gemüse verkauft. Eingekreist von Supermärkten konnte er sich auf winzigen 20 Quadratmetern Geschäftsfläche bis heute behaupten. Er und seine Frau wissen, was ihre Kunden wollen: "Die Birnen sind zu hart, die werden S´ schwer beißen können", wird einer älteren Dame ein guter Tipp gegeben. Das Geschäft ist ein Treffpunkt vor allem für Pensionisten, die hier auch köstliche selbstgebackene Mehlspeisen erhalten - und "eine Ansprach'" finden.
Greißler als Psychiater
"Manchmal komme ich mir vor wie ein Psychiater", sagt die Chefin. Ob Eier, Essiggurkerl oder Erdäpfel - alles gibt es hier im Gegensatz zum Supermarkt einzeln zu kaufen, was vor allem von den alleinstehenden Kunden sehr geschätzt wird. Das Eingehen auf Kundenwünsche ist selbstverständlich. Die Greißlerei lebe von den langjährigen Stammkunden, erzählt der Kaufmann, der "namentlich nicht in die Zeitung will". Mit fast allen ist er per Du und auch der Schmäh kommt nicht zu kurz. "Wir wurschteln weiter, aber es geht sich aus. Weitere 100 Jahre wird das Geschäft aber wahrscheinlich nicht erleben", kommentiert das Ehepaar Gegenwart und Zukunft. Die beiden Söhne machten nämlich bereits frühzeitig klar, dass sie kein Interesse haben, wie ihre Eltern täglich um halb vier Uhr früh aufzustehen.
Doch abgesehen von der Nachfolger-Problematik sehe auch sonst die Zukunft der Kleinen nicht rosig aus: "Durch das Greißlersterben müssen auch immer mehr unserer Großhändler, von denen wir die Ware beziehen, aufgeben."
Ein Lokalaugenschein am Großmarkt Inzersdorf an einem Montag um halb fünf Uhr bestätigt dies: Hier, wo "früher das Leben pulsierte", wie ein Filialleiter erzählt, herrscht heutzutage nur wenig Betrieb. "Mehr als 80 Prozent meines Umsatzes mache ich mit der Zulieferung an Krankenhäuser und Gastronomiebetriebe und nur knapp 20 Prozent mit heimischen Kleinkaufleuten - früher war das Verhältnis umgekehrt", berichtet Felix Schirnhuber, Geschäftsführer des sieben Mitarbeiter umfassenden Großhändlers K. Müllner aus Gramatneusiedl. Die Zeiten seien härter, der Druck von Importeuren größer und die Spannen niedriger geworden. Der "Arbeitstag" beginne um 0.30 Uhr, die Arbeitswoche umfasse 60 bis 80 Stunden. "Da gehört viel Idealismus dazu."
90-Stunden-Woche
80 bis 90 Stunden pro Woche ist der Kaufmann Alfred Pavlovics für sein Geschäft tätig. Stolz bezeichnet sich der erst 31-Jährige als "Greißler von Neustift", was auch die große, elegante Tafel über dem Eingang seines Kaufhauses kundtut. In der noblen Heurigengegend am Rande Wiens ist er der einzige Greißler, wobei "der klassische Nahversorger hier noch geschätzt wird", wie Pavlovics betont. Wie in früheren Zeiten bekommt man bei ihm (fast) alles wie etwa Drogerieartikel und sogar Tabakwaren. An Lebensmitteln werden auch Salami und Aufstriche jeweils ohne Konservierungsmitteln und fünf verschiedene Sorten Milch geboten.
Dabei kommt Pavlovics als gelernter Kfz-Mechaniker und Elektriker aus einer ganz anderen Branche. Nachdem er seine Frau kennen gelernt hatte, die mit dem Vorbesitzer des Geschäftes weitschichtig verwandt war, machte er sich wie geplant selbstständig - wenngleich woanders als ursprünglich gedacht. "Ich sehe mich als den typischen Greißler, so wie es ihn früher gegeben hat", verweist der im Wiener Feinkostring aktive Pavlovics auf die besondere Kundennähe, die vom Anschreiben lassen bis zum Einsetzen der bei ihm gekauften Blumen geht. Von Anfang an habe er getrachtet, in das Geschäft zu investieren, beispielsweise in eine Küche als Vorbereitungsort für sein individuelles Partyservice. Auf einer Verkaufsfläche von 50 m² wird ein durchschnittlicher Tagesumsatz von knapp 900 Euro erzielt. "Das Geschäft rechnet sich aber nur, weil ich alles selbst mache und meine Frau die Buchhaltung erledigt."
Für das Erreichen eines dauerhaften Erfolges nennt der Greißler von Neustift mehrere Faktoren: "Ehrlichkeit, gute Produktqualität, ein vollständiges Sortiment, großen Einsatz und Freude. Am wichtigsten aber ist es, die eigene Persönlichkeit mitzuverkaufen und immer für den Kunden da zu sein." Und die Kunden, die er als "große Familie" bezeichnet, sind zum Teil sehr prominent: Von Ex-Finanzminister Hannes Androsch über Danielle Spera bis hin zum Schauspieler Gert Voss, geben sich Bekanntheiten bei ihm die Klinke in die Hand. "Doch von den Prominenten alleine kann man bei weitem nicht leben." Wichtig sei es, alle Menschen gleich zu behandeln.
Biologische Zukunft?
Mit einer außergewöhnlichen Werbeaktion sorgte der "alternative" Lebensmittelhändler Johannes Nebel für Aufsehen: Der frühere "Bio-Greißler" montierte das Symbol seines Geschäftes, einen großen, roten Apfel auf sein Auto, wobei sich der Apfel sogar drehte. Vor 21 Jahren gründete Nebel in Wien-Hernals einen der ersten Bioläden Österreichs. "Ich wollte einen Greißlerladen im alten Ambiente mit moderner, biologischer Produktgestaltung." Ein Ziel sei es gewesen, Impulse zur Wiederbelebung des Greißlertums mit biologischen Produkten direkt vom Bauern zu setzen, wobei der Zwischenhandel ausgeschaltet werden sollte. Nach einer schwierigen Anfangszeit, in der noch keine Infrastruktur für biologische Waren existierte und die Kundschaft zum Teil von weit her kam, sei die Nahversorger-Funktion erst später gekommen.
Sehr gute Zeiten erlebte er mit seinem Geschäft zwischen 1989 bis 1994. Dann stieg Billa mit "Ja!Natürlich" in das Bio-Geschäft ein, was Nebel von einem Jahr auf das andere ein Umsatzminus von rund 70.000 Euro bescherte. Dennoch konnte er sich trotz enormer Konkurrenz (rund zehn Supermärkte mit Bioprodukten und die einzigen zwei Bio-Supermärkte Wiens in unmittelbarer Umgebung) behaupten, "wenngleich es immer aufwendiger wurde, den Umsatz zu halten" - deshalb auch die Aktion mit dem Apfel am Autodach. Vor einem Jahr entschloss er sich zum Verkauf, unter anderem, weil er des Greißlerlebens überdrüssig wurde. Dennoch ist Nebel überzeugt, dass ein Greißler, der Bioprodukte führt, bestehen kann. "Viele lieben einfach den krassen Gegensatz zum Supermarkt." Wenn ein kleiner Laden etwas Besonderes anbiete - wie beim "Bio-Greißler" das warme Mittagessen -, so spreche sich das herum.
"Aber ohne Idealismus und einen enormen Arbeitsaufwand geht´s nicht", weiß Nebel wie die meisten anderen Greißler aus Erfahrung. Seine Nachfolgerin, die aus dem Internet-Marketing-Bereich kommende Ingrid Gold, will das Geschäft als Sprungbrett für ein groß angelegtes Bio-Catering-Service nutzen.
Nicht teurer, aber schneller
Vehement gegen das Vorurteil des "teuren Greißlers" wehrt sich Claudia Ottendorfer, die im 7. Wiener Gemeindebezirk seit 15 Jahren Chefin eines über 100 Jahre alten Geschäftes ist. Zwar gebe es Kollegen mit übertriebenen Preisen, räumt sie ein, aber abgesehen von den Lockangeboten der Supermärkte gebe es generell geringere Unterschiede als angenommen.
Vom Geschäft alleine könne sie jedoch nicht leben und so habe sie sich mit einem Lokal ein zweites Standbein geschaffen. Das Jausengeschäft laufe inzwischen besser als das Einkaufsgeschäft. Ein Grund dafür sei, dass immer mehr der alten Stammkunden wegsterben. Auch ihr Familienbetrieb, bei dem ihre Schwester und Mutter mithelfen, bietet viele selbstgemachte Köstlichkeiten wie Aufstriche, Mehlspeisen, warme Tagesteller zum Mitnehmen und sogar "Omas Eierlikör". "Das ist zwar viel Arbeit, aber wir können nicht die Supermarktware hinlegen", sagt Ottendorfer und weist auf einen weiteren Vorteil der Kleinheit hin: "Der gleiche Einkauf ist beim Greißler viel schneller erledigt als im Supermarkt."
Museale Kostbarkeiten
Während in der Stadt mit jedem Greißler weniger auch ein Ansprechpartner für ältere, alleinstehende Menschen verschwindet, sind die Probleme in ländlichen Gebieten anders gelagert: "Die Dorfgemeinschaft leidet sehr und geht immer mehr verloren", beklagt Anton Distelberger eine Konsequenz des Verschwinden der Greißlerläden. Hier seien sich früher alle Dorfbewohner begegnet und hätten untereinander ein paar Worte ausgetauscht. "Im Supermarkt grüßt keiner und man trifft selten einen Bekannten."
Der 72-jährige ist zwar Altbauer am Ödhof nahe Amstetten, dennoch ist er ein Greißler-Experte: Er betreibt das Mostviertler Bauernmuseum, die mit über 17.000 Exponaten größte volkskundliche Privatsammlung Österreichs. Eines der Prunkstücke, die er seit 30 Jahren zusammenträgt, ist eine alte Greißlerei mit unzähligen Details. Hier gibt es alles, was in längst vergangenen Zeiten verkauft wurde wie Hosenknöpfe, Griffeln, einzelne Nägel und Schrauben, Fleischhacken, Schießpulver, Schuhabsätze, Brautkränze, Trauerdevotionalien und Papierblumen. Der Nachttopf steht wie damals gleich neben dem Suppentopf und die Kannen, die mit Essig und Milch gefüllt waren, dürfen ebenso wenig fehlen. Trotz dieser Schätze zieht Distelberger nüchtern Bilanz: "Es war eine schöne Zeit, aber ein Greißler im früheren Sinne kann heute nicht mehr bestehen."
Ein Greißler im früheren Sinne - also reiner Verkauf, ohne Zusatzangebote wie Essenszustellung oder Partyservice - ist Hans Zarl im benachbarten Amstetten. Er ist der letzte von ehemals rund einem Dutzend Greißlern im Ort. Der heute 83-jährige steht zusammen mit seiner Frau noch immer täglich hinter der Theke und verkauft Gemischtwaren aller Art. Da es keinen Nachfolger gibt, ist es um die weitere Zukunft des 1890 gegründeten Geschäftes nicht gut bestellt. Auf absehbare Zeit wird wohl ein Adeg-Markt, der Waren auf Wunsch auch zustellt, der einzige kleine Nahversorger im Ort sein.
Nahversorger: Für alle gut
Obwohl Nahversorger im Allgemeinen und Greißler im Speziellen heutzutage gezwungen sind, einen besonders hohen Arbeitseinsatz für ihre Kunden zu bringen, fühlen sie sich oft von der Politik im Stich gelassen. Diejenigen, die sich Angestellte leisten, stöhnen unter den hohen Lohnnebenkosten "und fehlenden Förderungen für Kleine in diesem Bereich". Auch werde der "untere Bildungsbereich" komplett vernachlässigt, so dass gute Fachkräfte und geeignete Lehrlinge Mangelware seien, kritisiert etwa der "Greißler von Neustift".
Den Wert der kleinen Lebensmittelgeschäfte unterstreicht die Doktorarbeit Strobls: "Jede Maßnahme, die dazu dient, dass ein typischer Nahversorgungsbetrieb, der sich zumeist im Ortszentrum befindet, auch in Zukunft bestehen kann, kommt unmittelbar der gesamten Bevölkerung zugute."
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Soeben erschienen ist die Neuauflage von Anton Distelbergers Buch "Mei Sammlerleben". Auf knapp 400 Seiten sind zahlreiche Kostbarkeiten des von ihm betriebenen Mostviertler Bauernmuseums zu sehen und die Herkunft von 2.000 Ausdrücken sowie Redewendungen aus dem Volksleben nachzulesen. Bestellungen schriftlich (Mostviertler Bauernmuseum, z. Hd. Anton Distelberger, Ödhof-Gigerreith 39, 3300 Amstetten) oder per Fax (07479/7334-4).