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Grenze dicht, der "Jungle" wächst

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Politik

Aus dem Camp in Calais wird ein Dorf, doch damit könnte es schon bald vorbei sein.


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Calais. Flackerndes Blaulicht fliegt über die Ebene. Es kommt von allen Seiten: von vor der Brücke und dahinter, von der nahen Autobahn und aus Richtung der Gleise. Fahlgelbes Licht fällt auf die Schienen, eine Streife fährt unten entlang, oben leuchten drei Gendarmen mit Taschenlampen die Umgebung ab. Der Hubschrauber steht jetzt direkt über der Brücke und wirft seinen Suchscheinwerfer durch die dünne Wolkenschicht. Der Schienenabschnitt zwischen dem Eurostar- Bahnhof Calais Frethun und dem Tunneleingang beim Dorf Coquelles ist ein Hochsicherheitsgebiet.

Der Hubschrauber ist verstärkt im Einsatz, seit Bernard Cazeneuve, der Innenminister, Ende Oktober Calais besuchte. Die Zahl der Polizisten, die hier im Einsatz sind, hat sich danach fast verdoppelt: Mehr als 1100 sind es nun. Frankreich will das Schlupfloch Calais, in gut 30 Kilometern Entfernung von Dover an der schmalsten Stelle des Ärmelkanals gelegen, endlich dichtmachen. Seit Jahren ist die Hafenstadt ein Sprungbrett für Transitmigranten, die sich in England Asyl erhoffen oder zumindest Zugang zu Jobs und damit ein besseres Leben.

13 Tote seit Juni

Früher war der Hafen mit mehreren Überfahrten stündlich der Ort, von dem aus sie versuchten, als blinde Passagiere auf oder unter einem Lkw England zu erreichen. In diesem Jahr verlagerte sich das Geschehen auf den Eurotunnel fünf Kilometer vor der Stadt. Im Sommer probierten die Flüchtlinge, meist aus Afghanistan und Syrien, Irak, Eritrea und dem Sudan, den Tunnel in Gruppen zu stürmen. Noch immer versuchen sie Nacht für Nacht, sich auf einem Güterzug zu verstecken oder kurz nach der Anfahrt aufzuspringen. Seit Juni haben dreizehn Menschen dabei ihr Leben gelassen.

Im "Jungle", dem Flüchtlingscamp am Ende des Industriegebiets in den Dünen, wirkt alles wie immer. Gleich hinter der Autobahnbrücke, auch sie mit hohen Zäunen gesichert, dröhnen die Generatoren, übersäen Zelte in allen Formen, meist mit blauer Plane bedeckt, das Buschland, passieren Ströme von Menschen die sandigen Wege. Doch bei denen, die hier wohnen, macht sich Nachdenklichkeit breit. "Wir geben nicht auf", versichert Mohamad Balla, ein kleiner Sudanese von Mitte 30. "Aber im Moment ist es unmöglich es zu schaffen. Also warten wir ab, was der nächste Schritt der Regierung ist."

Neben Mohamad Balla steht ein jüngerer Mann, Mukhtar, auch er aus dem Sudan. Neulich versuchten sie es gemeinsam. Sie wurden entdeckt, wieder einmal. Mohamad entkam, Mukhtar wurde geschnappt und in ein Gefängnis nach Nimes gebracht, 1000 Kilometer entfernt. Nach ein paar Tagen wurde er freigelassen, mit dem Zug kam er zurück an den Kanal. Jetzt aber hat er in Frankreich Asyl beantragt. "Er hat aufgegeben", sagt Mohamad. "So wie viele von uns inzwischen. Sie denken, es ist zu gefährlich und haben sich schon etwas gebrochen." Auch Mohammad verletzte sich schwer, als er einmal beim Wegrennen mit dem Knie gegen einen Fels stieß und sich überschlug. Als die Polizisten bei ihm waren, traten sie ihn zusammen.

Mahlzeit für drei Euro

An der Abzweigung, von wo aus sich die beiden Hauptwege wie ein V über das hügelige Gelände ziehen, steht ein Gerüst aus hellen Brettern. Eine Plastikplane umgibt den oberen Teil, in die Front ist eine schmale, längliche Glasplatte als Fenster eingearbeitet. Das Ergebnis der letzten drei Tage, sagt Ali Ahmad, 28, Hammer in der linken Hand, Zigarette in der Rechten. 28 ist der Afghane, und wenn das Gebäude in zwei Tagen fertig ist, will er hier mit ein paar Bekannten ein Restaurant einrichten. Fleischbällchen, Reis, Bohnen, knuspriges Pratha-Brot, Frühstück, das soll das Menu sein, eine Mahlzeit wird zwei oder drei Euro kosten. Holz und Material wird von Hilfsorganisationen gesammelt und zum Jungle gebracht. Den Ort für das Restaurant haben sich die Betreiber selbst ausgesucht. Hier war "noch ein freier Platz", erklärt Ali Ahmad, und macht sich wieder an die Arbeit.

Wer länger durch den Jungle läuft, nimmt die Unterschiede schnell wahr. Die Migranten vom Horn von Afrika bilden die ärmste Gruppe. Die Syrer haben deutlich mehr Geld, sind aber im Alltag weniger sichtbar. Sie kommen erst seit anderthalb Jahren hierher - ganz anders als die Afghanen. Vor allem Paschtunen sind seit langem und meist in großen Gruppen am Kanal. Sie sind so etwas wie die Unternehmerkaste hier und unterhalten in der Regel die Restaurants. Auch die meisten der 20 Läden werden von Afghanen betrieben, Bretterbuden mit Keksen und Saft, Wasser und Konserven. Einige verkaufen selbst frisches Obst und Gemüse in Kisten, mit Fahrrädern herangekarrt von Aldi, Lidl oder Carrefour.

Unweigerlich denkt man an die Worte Cazeneuves, wenn man dies sieht. Gerade weil die Grenze sich in einem Zustand befindet, der Richtung hermetisch geht, nimmt das Leben im Jungle immer mehr Gestalt an. Doch es gibt Details, die von einer nahenden Veränderung künden: lange, rote Pfähle, die scheinbar willkürlich zwischen Zelten und Hütten aufragen. "Sie markieren die Umrisse eines Containercamps, das hier im November gebaut werden soll", erklärt Anna Mc Auhley, eine Studentin aus Manchester, die bei der Hilfsorganisation Salam ein Praktikum macht. Sie kommt soeben aus einer Notunterkunft für Frauen und Kinder am Rand des Jungle, wo Freiwillige täglich warmes Essen ausgeben. Das neue Camp, sagt sie, soll 1500 Plätze haben. Was aber passiert mit den übrigen Transitmigranten, und was mit ihren Unterkünften? Die Helfer, die schon länger dabei sind,denken unweigerlich an 2009, als die Polizei den damaligen Jungle mit Bulldozern dem Erdboden gleichmachte.

"Haben genug von Migranten"

Die Menschen, die sich an diesem Nachmittag auf einem Parkplatz am Hafen versammelt haben, würden dies durchaus begrüßen. Calaisiens en colère nennt sich die Gruppe, und wütend sind die rund 600 Frauen und Männer tatsächlich. Gleich zu Beginn der kurzen Zusprache heißt es, dass sie genug haben von den Migranten in ihrer Stadt und dass sie sich nicht mehr sicher fühlen. Wen man auch fragt hier: Alle betonen, dass sie keine Extremisten sind. Auf Plakaten wurde ihre Demonstration als "apolitische Versammlung" angekündigt. Was das bedeutet? "Dass wir von den Parteien nichts erwarten!"

"Es geht nur um unsere Stadt und dass wir genug von Migranten haben", sagt eine Frau mit französischer Fahne. "Wir fühlen uns nicht mehr sicher." Was sie von Pegida halten? Die Frau schüttelt den Kopf, damit fühlt sie sich nicht verwandt. Der Mann neben ihr, die Tricolore um die Schultern, dagegen schon. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Die Marseillaise schmetternd, geht es durch die Hauptstraße des Hafenviertels. Tous ensemble tous ensemble, ruft der Vorbeter mit hoher Stimme durch das Megaphon. "Hey hey", dröhnt es zurück. "Fermez la frontière!" Den Menschen auf den Terassen der Restaurants fällt beinahe das Mittagessen aus dem Mund. Calais aux Calaisiens, schallt es noch, als der Zug in Richtung Rathaus verschwunden ist. Am Abend wird in Calais Halloween gefeiert. Zuerst sind die Monster klein, verkleidet und sammeln Süßigkeiten, später in der Nacht dann erwachsen, geschminkt und sehr betrunken. Dass die Polizei bei der Frittenbude am Stadtpark eine Gruppe Migranten verhaftet, vor allem aus Syrien, fällt in dem Trubel gar nicht auf.