EIne Entdeckungstour durch die thematische und stilistische Vielfalt der Comics.
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Der Comic ist ein buntes Chamäleon. Das Medium kennzeichnet eine mannigfaltige Palette an Ausdrucksmöglichkeiten, Erzählweisen und Genres. Zwei Beispiele der letzten Jahre deuten etwas von der Spannweite und Wandlungsfähigkeit dieses Mediums an. Der 2012 bei Pantheon Books erschienene Comic "Building Stories" des US-amerikanischen Zeichners Chris Ware geht hart an die Grenzen des Mediums.
Zum einen ist "Building Stories" ein ästhetisches Einzelereignis, das sich durch eine strenge geometrische Bildersprache und Seitenarchitektur auszeichnet. Zum andern ist es nicht einfach ein Buch, sondern eine Schachtel mit einem 14-teiligen Comic, bestehend aus unterschiedlichsten Formaten: vom gebundenen Büchlein über das Zeitungsformat bis hin zum Poster, von hoch- und kleinformatigen Heften bis hin zum Leporello - nicht zuletzt in Reminiszenz an die Herkunft der Comic-Hefte.
Jedes Format folgt einem eigenen ästhetischen Prinzip. Die Protagonistin des Comics, eine Tagebuchschreiberin, träumt eines Nachts von einem eigenen Buch, das genau Wares Schachtel-Comic beschreibt: "[I]t wasn’t really a book, either . . . it was in pieces, like books falling apart, out of a carton."
Das Bild des Auseinanderfallens entspricht den (de)-konstruktiven Verfahren im Innern des Buch-Ensembles. Durch komplexe Strukturen auf der grafischen und die labyrinthische Erzählform des Bewusstseinsstroms auf der syntaktischen Ebene wird das Lesen, entgegen dem Klischeebild des allzu einfach gestrickten Comic-Heftls, zur Herausforderung: Wo beginne ich? Nicht nur, dass der Comic eine Art analoger Hypertextfiction ist, die unterschiedliche Einstiege und mögliche Leseabfolgen zulässt, auch einzelne Seiten weisen nicht selten eine schwer durchschaubare Struktur auf.
Anti-Helden
Inhaltlich ist "Building Stories", dessen Protagonistin in ihrer Kindheit bei einem Bootsunfall ein Bein verloren hat und gern Malerin geworden wäre, ein Buch über kleine und größere Ungerechtigkeiten des Lebens, über Einsamkeit und Leere, Trauer und Trostlosigkeit, über das Scheitern. An einer Stelle im Comic ärgert sich die Hauptfigur darüber, dass alle "großen Bücher" nur Verbrecher zum Gegenstand hätten: "Can’t I just find one that’s about regular people living everday life?" Abermals liefert der Comic seine Antwort selbst, denn seine Heldinnen und Helden sind Anti-Helden: gewöhnliche Menschen mit alltäglichen Geschichten. Das Unsensationelle ist hier das Sensationelle, die vernachlässigbaren Kleinigkeiten avancieren zu wesentlichen Elementen einer flüchtigen Geschichte.
Mit einer Sensation herkömmlicher Art hingegen setzt die Graphicnovela "Sechs aus 49" des französischen Autors Thomas Cadène ein (sechs Bände, Deutsch bei Schreiber & Leser): Mathilde Islematy gewinnt, ohne es zu wollen, im Lotto, nachdem sie einem Unbekannten in einem Café zufällig zur richtigen Zahlenreihe verholfen hat. Überraschenderweise teilt Hippolyt Offman, so der Name des besagten Lottospielers, wie versprochen den Gewinn mit der Glücklichen, die schlagartig um 30 Millionen Euro reicher wird. Wie in einem Laboratorium der Gegenwart kommen im Lauf der Serie eine Reihe sehr gegensätzlicher Schichten und Typen miteinander in Berührung.
Aufsehen erregend ist die Serie jedoch vor allem aus folgendem Grund: Autor Cadène hat die Zeichnungen zu "Sechs aus 49" als Gemeinschaftsprojekt organisiert und damit der Serie ein wahrliches Originalitätsmerkmal verpasst. Auch wenn der Fortsetzungsroman ein Format aufgreift, das dem Comic seit den frühen Zeitungsstrips bekannt ist.
Zeichnerkollektiv
Durch ein Zeichnerkollektiv, das im Lauf der Zeit spektakulär auf über hundert Zeichner und Zeichnerinnen anwuchs und einen faszinierenden Einblick in die jüngste, vorwiegend französische Zeichnerszene gewährt, wird "Sechs aus 49" zu einem bunten Kaleidoskop von Stilen und Techniken. Aufgrund seines enormen Erfolgs wurde der in Frankreich zunächst online veröffentlichte grafische Fortsetzungsroman nachträglich als Buch herausgebracht. In Deutschland ist die letzte der 332 Episoden (16 Staffeln) kürzlich, im September 2015, online gestellt worden (www.sechs- aus49.de). Die ersten sechs Bände sind bereits in Buchform erhältlich.
Trotz der bemerkenswerten Vielfalt auch im Genrebereich fallen Reportage und Autobiografie, einschließlich ihrer Subgenres, auf. Seit Joe Saccos grundsteinlegender Comicreportage "Palästina" (1996) und David B.s überwältigender Comicautobiografie "Heilige Krankheit" (1996-2003) hatsich das Spektrum dieser Gattungen erstaunlich erweitert.
Igorts Diptychon "Berichte aus der Ukraine" und "Berichte aus Russland" (Reprodukt 2011/2012) ist eine Mischung aus Reportage, Reisebericht und Oral History - und ein herausragendes Beispiel dieser Art. Eingebettet in ihre historischen Kontexte, lässt der italienische Zeichner drei Überlebende der in den 1930er Jahren vom Sowjetimperium initiierten Hungersnot, dem Holodomor, in der heutigen Ukraine ihre Geschichte erzählen. Im Russland-Teil bewegt sich Igort auf den Spuren Anna Politkowskajas, der 2006 ermordeten Journalistin der Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta", die sich wie niemand anderer für die Aufklärung der Hintergründe der Tschetschenienkriege eingesetzt hat.
Es ist vor allem die persönliche, zugleich fundierte Art der Annäherung, die Igorts Comics auszeichnen. In kleinen Abschnitten beschreibt der Autor, was als Ganzes unfassbar ist. Einfache Zeichnungen in fahlen Farben wechseln mit dichten Überblendungen. Knäuel feinster Bleistiftstriche stehen für die unverdauliche Verflechtung des Grauens. Schließlich wird die Reportage zum Requiem für die Opfer.
In eigenen Sprachen
Eine mimetische Form der Annäherung nutzt auch Paula Bullings Reportage "Im Land der Frühaufsteher" (avant-Verlag 2012), in der es, stellvertretend für viele Regionen der EU, um die Situa-
tion von Flüchtlingen in Sachsen-Anhalt geht. Radikal stellt sich die junge deutsche Zeichnerin der Frage der Repräsentation, lässt die Menschen in ihren eigenen Sprachen sprechen, setzt die Übersetzung in den Fußnotenteil und teilt die Autorschaft des Textes mit einem der Protagonisten. In skizzenhaften Schwarzweiß-Zeichnungen wird eine große Nähe zu den Flüchtlingen spürbar, der Freiraum in den großflächigen Panels scheint sich den beengenden Verhältnissen ihrer Situation zu widersetzen.
Gerät die Zeichnung bei Igort und Bulling zum poetischen Ausdruck und melancholischen Bild, so sind Witz und Humor die Stärke von Riad Sattoufs "Der Araber von morgen - Eine Kindheit im Nahen Osten (1978-1984)". Wie in Marjane Satrapis "Persepolis" (2000-2002) sind darin Autobiografie und politische Geschichte miteinander verflochten. Und eine spezifische Fähigkeit des Comics kommt dabei besonders zur Geltung. Denn anders als Wörter, bewegen Bilder sich zwischen Kulturen und übersetzen Gesten einer anderen Kultur unmittelbar, ohne die Seite zu wechseln. Hinzu kommt der doppelte Blick des Zeichners, der die Geschichte aus der Perspektive des kleinen blonden Riad erzählt. Geboren in Frankreich, kommt er mit seinem syrischen Vater und seiner französischen Mutter zuerst in Gaddafis Libyen, danach in Hafiz al-Assads Syrien, bevor er nach Frankreich zurückkehren wird. Die Wahrnehmungen Riads spiegeln auf subtile Weise politische und soziale Strukturen von Ländern im Würgegriff ihrer Diktatoren.
Die Herausforderung, eine eigene bittere Vergangenheit in Comicform schonungslos darzustellen, ist der österreichischen Zeichnerin Ulli Lust meisterhaft gelungen. Durch ihren dokumentarischen Erzählstil hat sie mit "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" (avant 2009) einen Maßstab gesetzt und gezeigt, wie man bedrohlichen Gefühlen wie Angst und Ohnmacht mit zeichnerischen Mitteln überzeugenden Ausdruck verleihen kann. Ein anderes sensibles Thema behandelt Fabien Toulmés "Dich hatte ich mir anders vorgestellt . . ." (avant). In dem soeben herausgekommenen Comic stellen Julias Eltern nach der Geburt fest, dass ihre Tochter Trisomie 21 bzw. Down Syndrom hat.
Schonungslos offen beschreibt darin Fabien seine Gefühle zwischen Schockzustand, Enttäuschung und Trauer angesichts dieser überraschenden Nachricht, die er nicht vor sich selbst verbergen möchte. Stilistisch sind die kapitelweise abwechselnd monochrom kolorierten Zeichnungen konventionell, der aufrichtige Ton macht diesen Comic jedoch zu einem berührenden Ereignis.
Skurrile Komik
Doch Autobiografisches geht auch abgedrehter, wie die Sammlung "Hexe Total" (avant 2015) veranschaulicht. Auf den ersten Blick ahnt man es nicht, dass die Comics des australischen Zeichners Simon Hanselmann einen stark autobiografischen Hintergrund haben. Der Plot wirkt belanglos, fremdartig jenseitig bis abstoßend: Die Hexe Megg, die Katze Mogg und eine menschenähnliche Eule, meist das Opfer der beiden ersten, leben in einer Kiffer-WG und stecken darin symbolisch fest. Kiffen und Dissen (= schlechtmachen) sind ihre einzigen Mittel gegen Langeweile und Depression. Sexspiele kommen noch dazu. Durch die schräge Figurenkonstellation schwingt das Theatralisch-Komische mit, doch die skurrile Komik ist stets hart an der Grenze, denn die Ursachen der Lethargie sind Joblosigkeit, Perspektivlosigkeit, Selbstverlorenheit.
Alsbald erkennt man hinter den Masken und ihren derben Sprüchen greifbare Typen. Dass die ständig kiffende Hexe Megg das Alter Ego des Crossdressers Hanselmann ist, dessen Mutter bereits drogenabhängig war, ist aufschlussreich. Für den Autor wurden die Comics zum Rettungsanker. "Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn ich keine Comics zeichnen könnte." Verstörend und überwältigend sind insbesondere die wuchernd-wabernden Bilderfolgen über Depression und abgründige Abwärtsbewegungen.
"Verdammte Scheiße! Man hat uns adaptiert!!!" Das Elend der Adaptionen ist allerdings nicht comicspezifisch. Miserable Verfilmungen sind genauso jämmerlich wie missverstandene Comicadaptionen. 1994 haben Paul Karasik und David Mazzucchelli auf Anregung von Art Spiegelman eine "visuelle Übersetzung" von Paul Austers Roman "Stadt aus Glas" angefertigt: Gelungen ist ihnen eine Übersetzung "in die Ursprache des Comics" (Spiegelman), indem sie von der ersten bis zu letzten Seite mit medienspezifischen Mitteln ein einzigartiges Werk geschaffen haben, das eigenständig neben dem Original bestehen kann, atemberaubend vom ersten bis zum letzten Panel.
Gelungene visuelle Umsetzungen hat es auch in letzter Zeit gegeben, darunter etwa Lusts "Flughunde" nach Marcel Beyer. Eine ganze Palette von Umsetzungs- und Inszenierungsmöglichkeiten hat allein der österreichische Zeichner Nicolas Mahler vorgelegt: Neben "Alte Meister" und "Der Weltverbesserer" nach Thomas Bernhard ist vor allem sein Comic "Der Mann ohne Eigenschaften nach Robert Musil" zu nennen, keine klassische Adap-
tion, sondern eine gewagte Zusammenfassung und Hochzeit von Hehrem und Trivialem. Oder "Alice in Sussex frei nach Lewis Carroll und H. C. Artmann", wo Mahler Carrolls und Artmanns Spiel des Zitierens, Anspielens, Vermischens virtuos auf die Spitze treibt.
Kanonbildung
Um sich ein Bild der vielfältigen Herangehensweisen von Comics an literarische Vorlagen zu machen, eignet sich "The Graphic Canon", (Galiani 2015), dessen zweiter Band dieser Tage in die Buchhandlungen gelangt und 44 Beispiele von Adaptionen der literarischen Moderne von Laurence Sterne bis Oscar Wilde vorstellt. Dessen Ziel ist es ausdrücklich nicht mehr, einem lesescheuen Publikum auf kürzestem Weg komplizierte Literatur näherzubringen, sondern das "brillante Können" des Comics sichtbar zu machen. Das oben leicht abgewandelte Zitat ("Man hat uns digitalisiert!!!") stammt aus dem fast 400 Seiten starken Band.
Überzeugend an der Anthologie des US-amerikanischen Herausgebers Russ Kick ist das offene Konzept, das für die Ausgaben in anderen Sprachen andere Schwerpunkte zulässt. Daher finden sich hier auch Umsetzungen von Werken von E.T.A. Hoffmann, Goethe und Büchner ebenso wie Beiträge verschiedener Zeichner aus dem deutschsprachigen Umfeld.
Ein bemerkenswertes Beispiel des Dialogs mit der Literatur ist Will Eisners kürzlich auf Deutsch erschienene grafische Interven- tion "Ich bin Fagin - Die unerzählte Geschichte aus Oliver Twist" (Egmont 2015): Das Bild des Juden Fagin aus dem Roman von Charles Dickens hat gegen die Intention des Autors in den Köpfen mehrerer Lesergenerationen Unheil angerichtet. Eisner, herausragender Wegbereiter des grafischen Romans, konfrontiert den Autor Dickens mit dessen Figur in der Todeszelle: "Ich (Fagin) ließ euch kommen, um einem Mann gegenüberzutreten, den ihr falsch dargestellt habt!" Und so wird Eisners Umsetzung von Dickens’ "Oliver Twist" zu einem beachtenswerten Korrektiv, das mit seinem letzten Comic, "Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion", eine Einheit bildet.
Schließlich darf ein traditionsreiches Genre des Mediums nicht unerwähnt bleiben: der Krimicomic. Der neu aufgelegte Kurzkrimi "Fliegenpapier" (avant 2015) des deutschen Plakatkünstlers Hans Hillmanns nach Dashiell Hammett ist ein herausragendes Beispiel von verdichteter Noir-Stimmung und Hard-boiled-Pose. Gezeichnet in den 1970er Jahren, ist er einmalig in seiner aufwändigen Ästhetik des aquarellierten Helldunkels, in der jedes Panel zum Plakat erstarrt, bis es vom Rhythmus der Geschichte fortgetragen wird.
Einzigartiges Kennzeichen sind die ausschließlich ganzseitigen Panels im Hochkantformat, die sich teils über zwei Seiten ziehen mit spektakulären Blickwinkeln, verwinkelten Architekturen, Straßen, Fenstern, Fluchten und immer wieder Spiegeln und Spiegelungen, die die ohnedies bereits weiten Räume um eine zusätzliche Dimension erweitern. Wie Hillmann wollte, wird Hammetts Text weitgehend von den Bildern "verzehrt", der Blick von den Bildern aufgesogen. Ein Arsenrezept aus "Der Graf von Monte Christo" wird Aufschluss über einen rätselhaften Mord verschaffen. Oder war es gar kein Mord?
Schwarzer Humor
Die Frage stellt sich in "Ich, der Mörder" (avant 2015) von Antonio Altarriba und Keko auf eine andere Art. "Töten ist kein Verbrechen", lautet der erste Satz dieses Comic Noir, dessen sparsam mit roten Spritzern kolorierte Schwarzweißbilder wie poröse Holzschnitte wirken. "Töten ist eine Kunst." Nach und nach werden die Leser mit dem theoretischen Manifest des reinen Mordes vertraut gemacht, das in Form eines inneren Monologs der Hauptfigur entsteht.
Hauptberuflich befasst sich Enrique Rodríguez Ramírez, Professor an der Universität des Baskenlandes, mit dem Thema Schrecken und Grausamkeit in der Kunst, das seit der christlichen Kunst der Totentanz- und Kreuzigungsdarstellungen, über Goya bis in die moderne Kunst und Body-Art eine lange Tradition hat. Eingebettet in einen Alltag von Intrigen am Institut, einer auseinanderbrechenden Ehe, einer herausfordernden Studentin sowie vereinzelten Nachwirkungen einer gewaltsamen baskischen Vergangenheit, geht der Kunstprofessor seinen künstlerisch arrangierten Morden aus interesselosem Vergnügen nach. Dadurch wolle er ein Statement setzen gegen das Töten als Mittel zum Zweck, das "Töten sinnvoll erscheinen lassen" soll. Unbehagen bereitet dieser schwarze Comic durch die subjektive Perspektive, die den Betrachter mitschuldig werden lässt an dieser Dekonstruktion des Tötens und - allzu buchstäblich - der Opfer, die solange "irreversibel" ist, bis der Buchdeckel zuklappt.
Martin Reiterer, geboren 1966, Germanist und Kulturpublizist, lebt in Wien und befasst sich speziell mit dem Medium Comic.