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Grenzenlose Wissenschaft?

Von Franz M. Wuketits

Reflexionen

Die Wissenschaft schreitet unaufhaltsam fort, ihren methodischen Potentialen sowie der Anwendung ihrer Erkenntnisse sind anscheinend keine Grenzen gesetzt.


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Von dem zu seiner Zeit viel beachteten und einflussreichen deutschen Physiologen Emil H. Du Bois-Reymond (1818-1896) stammt der bekannte Ausspruch "Ignoramus et ignorabimus" - "Wir wissen es nicht, und wir werden es nicht wissen". Der Gelehrte mahnte zur Bescheidenheit. Selbst bahnbrechend auf dem Gebiet der Elektrophysiologie, war er doch davon überzeugt, dass sich verschiedene Phänomene unserem Erkenntnisvermögen prinzipiell entziehen. Zu den unlösbaren "Welträtseln" zählte er die Frage nach dem Ursprung der Vernunft und Sprache und das Problem der Herkunft des freien Willens.

Vorstoß ins Unbekannte

Was die Wurzeln von Vernunft und Sprache betrifft, dürfen wir heute dank einschlägiger Ergebnisse aus den Disziplinen Anthropologie, Evolutionspsychologie, Verhaltensforschung und Linguistik viel optimistischer sein. Und im Hinblick auf den freien Willen ist das Problem eigentlich erledigt, weil es ihn - jedenfalls aus der Sicht vieler Gehirnforscher - gar nicht gibt. Die Ermahnung, grundsätzliche Grenzen der Wissenschaft, der Naturwissenschaft zumal, anzunehmen, wird man heute wohl kaum ernst nehmen, und ein "Ignorabimus" erweist sich für die Forschung ohnehin als kontraproduktiv.

"Blickt man", schreibt der Wiener Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser, "auf die gesamte Geschichte der Menschheit seit ihrem Anfang zurück, dann zeigt sich mit unumstößlicher Gewissheit, dass unter allen Kulturerscheinungen die Wissenschaft . . . das erfolgreichste Unternehmen darstellt."

In der Tat ist die Wissenschaft ein Prozess, der fortgesetzt Neuentdeckungen und Neuentwicklungen ermöglicht und uns stets den Vorstoß ins zuvor Unbekannte erlaubt hat. Was, in der Rückschau, als "Grenze" wahrgenommen wurde, war jeweils bloß eine "Front", die stets weiter verschoben werden konnte.

Die Erfindung von immer neuen Arbeitsmethoden und Techniken hat unseren Erkenntnishorizont ständig erweitert. Der Mensch hat sich sozusagen Prothesen zur Erweiterung seiner Sinnesorgane geschaffen, die deren natürliche Beschränkung in entscheidendem Ausmaß korrigieren können und ihm so ungeahnte Einsichten in den Makro- und Mikrokosmos gewähren.

Der Blick gen Himmel

Der gestirnte Himmel, der sich dem unbewaffneten Auge darbietet, ist nur ein winziger Ausschnitt des Universums. Aber schon Leonardo da Vinci (1452- 1519), der unermüdlich mit der wissenschaftlichen Methodenentwicklung beschäftigt war, sagte: "Macht Gläser, um den Mond groß zu sehen". Die Erfindung und ständige Verbesserung von "Gläsern" gab ihm recht. Bereits die ersten Fernrohre erweiterten unseren Blick gen Himmel und ließen Himmelskörper größer erscheinen, und später ermöglichten uns Teleskope und Radioteleskope, kosmische Objekte aufzuspüren, die Millionen und Milliarden von Lichtjahren von der Erde entfernt sind. Damit gewannen wir eine ungefähre Vorstellung von den Dimensionen des Alls.

Parallel dazu öffnete sich dem Menschen die Welt des Kleinen und Kleinsten, der Mikrokosmos, der den Naturforschern - solange sie nur auf die Sehkraft ihrer Augen zählen durften - verborgen blieb. Schon relativ einfache Vergrößerungsgläser ermöglichten eine tiefer gehende Erforschung dieser Welt, ihre Beschränkungen wiederum wurden durch Mikroskope aufgehoben, in deren Entwicklung das Elektronenmikroskop herausragt, welches eine bis zu zweimillionenfache Vergrößerung winziger natürlicher Objekte erlaubt.

Kleinste Bausteine

Der Blick ins Innere der Lebewesen wurde also immer tiefer, wir konnten die kleinen und kleinsten Bausteine der Organismen rekonstruieren. So wie Astronomen mithilfe immer verbesserter Instrumente und Beobachtungsmethoden weit entfernte Objekte sozusagen in Sichtweite gerückt haben, so konnten Biologen winzige Teile und Teilchen im Aufbau der Lebewesen sichtbar machen. In beiden Fällen wurden die jeweiligen Grenzen des Erkennbaren immer weiter verschoben. Die (natur-)wissenschaftliche Erkenntnis ist zwar in jedem Stadium ihrer Entwicklung beschränkt, doch die Möglichkeiten einer Vertiefung der Erkenntnisse durch die Entwicklung neuer Methoden bleibt stets offen, sodass man von prinzipiellen (methodischen) Grenzen nicht zu sprechen braucht.

Immanuel Kant (1724-1804) bemerkte: "Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit führen kann." Der Königsberger Weltweise wäre aber aus dem Staunen nicht herausgekommen, wenn er gesehen hätte, was die Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts so alles ans Tageslicht befördert haben: Quasare, Elementarteilchen, Quarks, Gene, DNA . . .

Genauso ist hier freilich anzuführen, wie sehr sich mittlerweile unser Blick ins Innere der Erde und in die Tiefen der Ozeane erweitert beziehungsweise - buchstäblich - vertieft hat und welche erstaunlichen diagnostischen und therapeutischen Methoden der Medizin heute im Mikrobereich zur Verfügung stehen. Kurz gesagt: Die Grenzen von einst sind weitgehend überwunden, und (methodische) Grenzen von heute mögen sich bald schon weiter verschieben.

Das Wesen der (Natur-)Wissenschaft besteht in der Hauptsache darin, alle Phänomene der realen Welt kausal zu erklären und immer umfassendere Erklärungssysteme (Theorien) über diese Welt zu entwickeln. Natürlich bleibt all unser Wissen, da hatte Sir Karl Popper (1902-1994) schon recht, letzten Endes hypothetisch. Aber alle unsere Hypothesen müssen sich schließlich an der Realität bewähren, und niemand kann leugnen, dass sich viele der Hypothesen - und in der Folge - Theorien der (Natur-)Wissenschaften bestens bewährt haben. Das zeigt sich nicht zuletzt an ihren erfolgreichen Anwendungen. Das vielleicht Erstaunlichste an den modernen Naturwissenschaften ist, dass sie Phänomene zu beschreiben und zu erklären vermögen, die sich unseren Sinnen entziehen.

Unser Wahrnehmungsapparat hat sich in der Evolution nicht entwickelt, um uns die "Wahrheit" über diese Welt erkennen zu lassen (was auch immer das nun sein mag), sondern nur, um uns, also seinen "Trägern", die teils durchaus riskanten Manöver in dieser Welt im Sinne des Lebens und Überlebens zu ermöglichen. Unsere Augen, Ohren und Nasen sind also, einfach gesagt, dazu da, um das Nächstliegende wahrzunehmen, ihnen bleiben daher ganze Welten verschlossen, denen aber dank wissenschaftlicher Erkenntnis unbestreitbar Realität zukommt: Sterne und Planeten, die Millionen von Lichtjahren von der Erde entfernt sind, Radioaktivität, Ultraschall, Mikroorganismen, Zeitdimensionen von Jahrmillionen und Jahrmilliarden und noch vieles mehr.

Die (Natur-)Wissenschaften haben ein sehr hohes Abstraktionsniveau erreicht, womit sie die Alltagserfahrung bei weitem übersteigen. Aber ihre Theorien brauchen gar nicht anschaulich zu sein - Hauptsache ist, dass sie konsistent, in sich stimmig sind und ein ebenso konsistentes Weltbild zu liefern vermögen. Grenzen der Anschaulichkeit verweisen also nicht auf Grenzen der Wissenschaft.

Überraschungen

Nun muss allerdings zugegeben werden, dass es Phänomene gibt, die, wenngleich ihrem Wesen nach wissenschaftlich erklärbar, immer wieder für Überraschungen gut sind. Eines dieser Phänomene beschäftigt uns tagein, tagaus: das Wetter. Trotz ihres inzwischen sehr komplexen und genauen methodischen Instrumentariums sind Geophysik, Meteorologie und Geodynamik nicht in der Lage, das Wettergeschehen über längere Zeiträume vorauszusagen. Das Wetter nämlich ist ein chaotisches Phänomen, es kann sich so schnell verändern, dass es dem Beobachter mit seinen In-strumenten immer davonlaufen kann und dieser seine Prognosen daher ständig zu revidieren gezwungen ist.

Ein derartiges "widerspenstiges Phänomen" ist vor allem auch unser Gehirn. Auch wenn Gehirnforscher über seine Strukturen und Funktionsweisen heute recht gut Bescheid wissen und wir seelische Phänomene längst nicht mehr in ein eigenes "Reich" jenseits der materiellen Welt delegieren müssen, entzieht sich jedes individuelle Gehirn seiner Berechenbarkeit.

Die Rätsel des Gehirns

Unser Gehirn ist ein so dynamisches, flexibles, sich ständig dermaßen "in Bewegung" befindliches System, dass es jedem noch so kenntnisreichen und sorgfältigen Beobachter jederzeit sozusagen davongaloppieren kann. Keiner von uns kann wissen, woran er zu einem bestimmten Zeitpunkt denken, wovon er träumen oder auch, welchen Streich ihm sein Gehirn noch spielen wird. Daran würde sich auch in Kenntnis jeder einzelnen der Milliarden und Abermilliarden Gehirnzellen nichts ändern. Die von außen betrachtet bloß etwa tausendfünfhundert Kubikzentimeter graue Masse enthalten erstaunliche Potentiale, die letztlich das Wesen, die Persönlichkeit jedes Einzelnen von uns ausmachen.

Dennoch markieren diese beiden - sicher nur bedingt miteinander vergleichbaren - Phänomene keine definitiven Grenzen der Wissenschaft. Es ist nicht auszuschließen, dass wir in Zukunft noch viel genauere Beobachtungsmethoden entwickeln können, die uns das Brodeln in der Wetterküche noch besser erkennen lassen und genauere Prognosen erlauben werden.

Auch die Gehirnforschung befindet sich noch keineswegs am Ende ihres Abenteuers und mag noch zu vielen weiteren erstaunlichen Erkenntnissen gelangen. Aber in diesem Zusammenhang nähern wir uns auch schon der Frage, welche Erkenntnisse denn überhaupt noch wünschenswert sind. Wenn es denn schon keine der Wissenschaft immanenten Grenzen gibt - ich stelle diese These hier einmal in den Raum -, dann bedeutet das nicht zwingend auch, dass ihr keine Grenzen gesetzt werden sollen.

Ethische Grenzen

Die Wissenschaft ist heute "für uns alle zum Schicksal und Verhängnis geworden. Denn sie ist es, die jenes Stadium der Menschheit eingeleitet hat, das die alten Historiker in dumpfer Vorausahnung und analoger Entsprechung zur Prähistorie oder Vorgeschichte die Nachgeschichte oder Posthistorie genannt haben" (Erhard Oeser). Was ist damit gemeint? Es ist keine Frage: Ohne Wissenschaft gäbe es keine Autos, keine Eisenbahnen, keine Flugzeuge, keine Telefone, keine Waschmaschinen, keine Nutzung fossiler Brennstoffe, keine Antibiotika - aber auch keine Kriegsinstrumente, vom Maschinengewehr über Panzerabwehrkanonen bis zur Atombombe. Dieser Januskopf der Wissenschaft ist ja gewissermaßen schon ein alter Hut, der aber in jüngster Zeit immer mehr Gefahr läuft, Feuer zu fangen.

So gut wie jede wissenschaftliche Erkenntnis kann in ihrer Anwendung prinzipiell ins Gegenteil dessen verkehrt werden, was damit ursprünglich beabsichtigt war. Diese Einsicht ist trivial, doch noch nie war Wissenschaft - vor allem Naturwissenschaft - in ein so komplexes Gespinst außerwissenschaftlicher, vor allem ökonomischer Faktoren eingewoben wie heutzutage. Dies erhöht aber den Erfolgsdruck der Wissenschafter, die auf Teufel komm raus Ergebnisse zu produzieren haben, wenn nur bloß irgendein ökonomischer Gewinn dabei herausschaut. Damit besteht die Gefahr, "dass die Wissenschaften", wie jüngst der Philosoph Robert Pfaller kritisch feststellte, "keineswegs Fakten erkennen, sondern Effekte produzieren". Womit aber unmoralisches Verhalten auf Seiten der Wissenschafter begünstigt wird.

Es dürfte heute kaum jemanden geben, der nicht der Meinung ist, dass in den Wissenschaften neben dem ihnen immanenten Erkenntnisinteresse auch moralische Überlegungen ihre Rolle spielen sollten; dass nicht alles, was im Dienste jenes Interesses verfügbar und machbar ist, auch moralisch legitimiert werden kann. Gleichzeitig aber muss man die Augen schon ziemlich fest schließen, um nicht zu erkennen, dass die Entwicklung der Wissenschaften - so wie die Entwicklung anderer Bereiche unserer Lebenswelt (nicht zuletzt der Wirtschaft) - und die Schaffung verlässlicher moralischer Standards keineswegs einhergehen, dass diese jener in geradezu beängstigender Weise nachhängen. Aber es hilft wenig, hier bloß zu lamentieren; das geschah schon häufig genug, und es geschieht heutzutage ja ständig.

Der Minimalkonsens

Die Gefahr für die Wissenschaft und ihre Nutznießer geht nicht mehr von einem "Ignoramus" oder "Ignorabimus" aus, sondern vielmehr von dem, was wir in bestimmten Disziplinen der Wissenschaft schon wissen und mit einiger Wahrscheinlichkeit noch wissen werden. Daher sind wir gefordert, den möglichen Gefahren zukünftigen Wissens entgegenzusteuern. In der Ethik gibt es keine Patentrezepte, und auch dem Wissenschafter stehen keine festen moralischen Haltegriffe zur Verfügung. Der ethische Minimalkonsens, auf den man sich, in meiner Perspektive, einigen könnte (müsste!), wäre die Integrität und Einmaligkeit des Individuums, die zu verletzen im Interesse jeder - auch noch so verlockenden - Erkenntnis zu unterbinden ist.

Wer soll das unterbinden? Nicht der Gesetzgeber, den üblicherweise moralische Kompetenz keineswegs auszeichnet. Gefragt ist der informierte, mündige Bürger, der Nutznießer wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren Anwendungen ist, gleichzeitig aber auch deren Gefahrenpotentiale zu erkennen vermag und seine Stimme erhebt.

Selbstredend ist damit auch ein Bildungsproblem angesprochen. "Mitreden" setzt immer Kritikfähigkeit und die Einsicht in Zusammenhänge voraus. Die diversen "Bildungsreformen" der vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben dazu allerdings nichts beigetragen.

So bleibt die Hoffnung, dass eine signifikante Anzahl von Bürgern - in ihrem eigenen Interesse - möglichst tiefe Einsichten in zusammenhängende Probleme entwickelt. Und dass Wissenschafter ihrerseits sich zunehmend darauf besinnen, dass sie nicht Handlanger von Interessensträgern der Wirtschaft sind, sondern ihre Zunft, wie seit alters, nicht zuletzt im Interesse der Humanität vertreten.


Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien und ist Vorstandsmitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Verfasser zahlreicher Sachbücher. 2013 erschien sein Buch "Animal irrationale. Eine kurze (Natur-) Geschichte der Unvernunft", Suhrkamp, Berlin.