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Billiglohn und Fremdenangst. | Massenproteste der "Hispanics". | In seinem 1995 erschienenen Roman "América" (Originaltitel "The Tortilla Curtain") schildert der US-Schriftsteller T. C. Boyle das Problem der Immigration aus zwei Perspektiven: Aus der eines von einer Katastrophe in die andere stolpernden Mexikaners, und aus der eines liberalen nordamerikanischen Naturliebhabers und Schriftstellers. Diese Romanfigur ist hin und hergerissen zwischen Ablehnung und Zustimmung, als um seine Wohnsiedlung in den Bergen vor Los Angeles eine Mauer errichtet werden soll. Sie wird natürlich gebaut - mit Hilfe des illegal eingereisten Mexikaners.
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Eine Karikatur griff in den USA jüngst das Thema wieder auf - ein weißer Vorarbeiter blickt von einem an die chinesische Mauer gemahnenden Bauwerk herab und meint: "Das sollte sie draußen halten, nicht wahr, Miguel?" Und ein Mexikaner mit Schubkarre antwortet: "Si".
Dies beschreibt recht anschaulich die Rahmenbedingungen der Diskussion, die derzeit die USA spaltet. Auf der einen Seite bewältigen die illegalen Immigranten, deren Zahl auf elf Millionen Menschen geschätzt wird, einen Großteil der Hilfsarbeiterjobs - im Baugewerbe, als Obstpflücker oder als Gärtner und Dienstmädchen in den Villen der Wohlhabenden. Damit sind sie nicht nur für die mexikanische Wirtschaft zu einem wichtigen Faktor geworden - fast 18 Milliarden Dollar jährlich werden aus dem Norden in die Heimat überwiesen -, sondern auch für die US-amerikanische. Ihr Boom wäre ohne die Billiglohnkräfte, die keine Gewerkschaft haben, nicht auf Mindestlohn drängen und über keine Krankenversicherung verfügen, nicht zu schaffen.
Andererseits führt dies zu Lohndumping und Gefährdung der ohnehin schwach ausgeprägten sozialen Netze. Die legal ansässigen "Hispanics" - rund elf Millionen eingebürgert, etwa gleich viele mit der Arbeitserlaubnis der "Green Card" - leiden darunter ebenso wie die weiße Unterschicht.
Während die Latinos aber mit den Weißen wenig gemein haben, verbinden sie mit den Illegalen oft verwandtschaftliche Verhältnisse. Familien, von denen ein Teil legal, ein Teil ohne Papiere ("undocumented") in den USA leben, sind keine Seltenheit.
Die wachsende Solidarität innerhalb der lateinamerikanischen Gemeinschaft - neben Mexikanern auch Puertoricaner, Kubaner und andere - zeigte sich in den jüngsten Demonstrationen von hunderttausenden Menschen gegen immigrantenfeindliche Gesetzesvorhaben. Unterstützend wirkt ein Netzwerk eigener Medien: Es gibt 60 spanischsprachige Kabelsender, 160 lokale TV-Stationen und 300 Radiostationen.
Gespaltene Nation
Die weiße Mehrheit, die etwa in Miami oder in Los Angeles schon keine mehr ist, reagiert beunruhigt: Harvard-Professor Samuel Huntington fürchtet auch im eigenen Land einen "Kampf der Kulturen". Laut einer Umfrage des Pew Research Centers sind 53 Prozent der Amerikaner dafür, dass die elf Millionen Illegalen in ihr Land zurück gehen sollen. Laut einer weiteren Umfrage ist die Immigration zum drittwichtigsten Thema hinter dem Krieg im Irak und der Wirtschaft aufgerückt. Genauso gespalten wie das Volk sind auch seine Repräsentanten über die Parteigrenzen hinweg. Die Konservativen setzen auf harte Maßnahmen an der Grenze. Bill Frist, Mehrheitsführer im US-Senat und ein möglicher Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2008, wollte, einem Beschluss des Abgeordnetenhauses vom Dezember folgend, die Grenze zu Mexiko mit einer rund 1000 Kilometer langen Barriere beschützt wissen. Andere, darunter Präsident George W. Bush, traten für eine Legalisierung der Menschen ohne Papiere ein.
Ein von den Republikanern mühsam erarbeiteter Kompromiss ist vergangene Woche aber wiederum gescheitert. Darin war eine abgestufte Form der Legalisierung vorgesehen: Illegale, die schon vor mehr als fünf Jahren ins Land kamen, hätten demnach nach Zahlung von Bußgeldern und anderen Auflagen die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung und nach weiteren fünf Jahren die Einbürgerung erhalten können.
Bis zu acht Millionen Einwanderer dürften unter diese Kategorie fallen. Menschen, die zwei bis fünf Jahre schwarz in den USA leben, sollten ausreisen, aber an der Grenze eine Arbeitsbewilligung beantragen dürfen. Jene, die kürzer im Land waren, müssten heimkehren. Sie könnten aber von einem neuen Gastarbeiterprogramm für jährlich 3250.000 Menschen - ursprünglich war von 400.000 die Rede - profitieren.
Konservative Republikaner hatten bereits verwässernde Abänderungsanträge angekündigt, die Demokraten lehnten die Vorlage deshalb ab - was ihnen von Bush den Vorwurf der "Blockadepolitik" einbrachte.
Wie es nun weiter gehen soll, weiß niemand so recht. Pessimisten fürchten, dass nach der zweiwöchigen Frühjahrsferien des Senats gar kein neues Gesetz das Endresultat sein könnte. Bush freilich drängt weiter darauf. Für ihn gilt es, weder die Wählerschaft der Weißen noch der Latinos und schon gar nicht die Wirtschaft zu verschrecken. Ein im Wortsinn heikler Grenzgang.
Zuhause und auf der anderen Seite