In der Wissenschaft treten häufig Außenseiter in Erscheinung. Manche werden spät als bahnbrechende Forscher gewürdigt - was auf den Wissenschaftsbetrieb einiges Licht wirft.
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Als Anfang des 20. Jahrhunderts der Geophysiker und Meteorologe Alfred Wegener (1880-1930) seine Theorie der Kontinentalverschiebung entwickelte, wurde er von vielen Vertretern seiner Zunft verspottet, als Phantast oder Spinner angesehen.
Er kämpfte gegen die - im doppelten Sinn des Wortes - fixe Idee der Geologen, nämlich die Vorstellung von der Stabilität der Landmassen und Ozeane. Erst ab den 1960er Jahren fand seine Theorie Anerkennung, was er aber nicht mehr auskosten konnte. Der begeisterte Polarforscher hatte während seiner vierten Grönland-Expedition einen frühen Tod gefunden.
Unliebsame Ideen
Heute ist Wegener aus der Geschichte der Geowissenschaften nicht mehr wegzudenken. Er war ein Wegweiser in der Erforschung unseres Planeten und seines Werdens. Der Grat zwischen bloßer Spinnerei und bahnbrechender Forschung ist also mitunter recht schmal. Wegener war im Wissenschaftsbetrieb durchaus etabliert. Er war zunächst Vorstand der meteorologischen Abteilung der Deutschen Sternwarte, danach Professor in Hamburg und schließlich Professor in Graz.
Aber er vertrat eine seiner Kollegenschaft unliebsame Idee und wurde so als Außenseiter abgestempelt. Andere Außenseiter sind im Wissenschaftsbetrieb nicht etabliert, wollen aber in diesen - eben von außen - Ideen hineintragen. Was sich freilich oft als besonders schwieriges Unterfangen erweist. Denn wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens werden auch in der Wissenschaft "Eindringlinge" nicht gern gesehen.
Ob jemand grundsätzlich in den Wissenschaftsbetrieb oder die Wissenschaftergemeinschaft (scientific community) integriert ist, lässt sich heutzutage anhand einiger äußerlicher Kriterien festlegen. Wer kein akademisches Studium abgeschlossen hat, keine akademische Lehrtätigkeit ausübt, keine Institutsadresse angeben kann oder darf (also nicht "affiliiert" ist), nie zu Vorträgen anlässlich wissenschaftlicher Symposien eingeladen wird und seine schriftlichen Arbeiten nicht in angesehenen Zeitschriften und Verlagen unterbringen kann, gilt als nicht integriert. Die Qualität seiner Arbeiten lässt sich allerdings allein daran nicht messen. Denn umgekehrt vollbringt keineswegs jeder, der im Wissenschaftsbetrieb fest verankert ist, auch nennenswerte Leistungen. So mancher schwimmt in diesem Betrieb nur mit und wird, wie der Wiener Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser schon vor einigen Jahrzehnten feststellte, "auf dem Rücken einer statistischen Schwankung ebenso sicher in die Höhe des wissenschaftlichen Erfolges getragen, wie er auch ebenso schnell wieder in die Tiefe der Bedeutungslosigkeit zurückgerissen wird".
Bohnen und Erbsen
Viele wissenschaftliche Leistungen lassen sich nur in der Langzeitperspektive richtig beurteilen. Das gilt beispielsweise auch für Gregor Mendel (1822-1884) und seine Vererbungslehre. Heute praktisch jedem Schulkind ein Begriff und von der Geschichte der Biologie nicht wegzudenken, wurde Mendel von seinen Zeitgenossen ignoriert. Zwar hatte der Augustinermönch und spätere Prior des Augustinerklosters in Brünn neben Theologie auch Naturwissenschaften studiert, arbeitete aber an seinem Wirkungsort abseits aller großen, anerkannten wissenschaftlichen Institutionen.
Seine anhand zahlreicher Kreuzungsversuche mit Bohnen und Erbsen gewonnenen Erkenntnisse (Mendel-Gesetze) bilden das Rückgrat der klassischen Genetik, wurden jedoch auch deshalb zunächst nicht wahrgenommen und verstanden, weil sie in der damaligen Biologie ungewohnte und unübliche statistische Befunde enthielten. Erst knapp zwanzig Jahre nach seinem Tod wurden Mendels Arbeiten wiederentdeckt und genießen seither uneingeschränkte Anerkennung - wovon der Forscher persönlich nichts mehr hatte und somit sein Schicksal mit Alfred Wegener teilt.
Mendel ist unter den Außenseitern der Wissenschaft ein Grenzgänger und Fremdgeher. Dasselbe gilt zumindest in einer Hinsicht auch für den österreichischen Physiker Erwin Schrödinger (1887-1961). Dem aber war eine glänzende wissenschaftliche Laufbahn beschieden. Er bekleidete Lehrämter an verschiedenen europäischen Universitäten, war also im akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb bestens etabliert und wurde (für seine Verdienste um die Quantenmechanik) obendrein noch - bereits als Sechsundvierzigjähriger - mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Ein Grenzgänger und Fremdgeher war er aber deswegen, weil er als Physiker zum Problem der Ordnung des Lebendigen einen originellen Erklärungsansatz vorlegte und damit als Außenseiter in die Fachgenossenschaft der Biologen eindrang. Sein 1944 erschienener schmaler Band "Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet" fand denn auch unter Biologen zunächst kaum Beachtung. Doch durfte Schrödinger noch erleben, dass auch sein Ausflug in die Biologie nach und nach wohlwollend aufgenommen wurde. Schrödinger gilt heute als einer der Wegbereiter der modernen Molekularbiologie.
Goethe als Forscher
Das Phänomen der Außenseiter in der Wissenschaft zeigt viele Facetten. Geht man in der Geschichte weiter zurück, so häufen sich zunehmend Universalisten und Dilettanten, die nach heutigen Kriterien nirgendwo akademisch, institutionell untergebracht werden könnten, jedoch eine derartig nachhaltige Wirkung hinterlassen haben, dass die meisten der heute "etablierten" Wissenschafter dagegen verblassen.
Man wird dabei zum Beispiel gleich an Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) erinnert. Der unumstrittene Dichterfürst und langjährige "Berufspolitiker" in Weimar mischte in den Naturwissenschaften kräftig mit und beschäftigte sich mit Geologie, Mineralogie, Meteorologie, Physik (Farbenlehre) und Morphologie, obwohl er dazu nicht ausgebildet war. Durch seine systematisch morphologischen beziehungsweise anatomischen Studien entdeckte er den Zwischenkieferknochen beim Menschen und widersprach der damals in der Fachwelt herrschenden Meinung, dass dieser Knochen nur bei anderen Säugetieren vorhanden sei. Dass auch der französische Arzt und Anatom Félix Vicq d’Azyr (1748-1794) die gleiche Entdeckung gemacht hatte, tut dabei nichts zur Sache, weil Goethe davon offenbar nichts wusste.
Allerdings beklagte sich Goethe einmal darüber, dass im Gegensatz zu seiner Dichtung seine Naturforschung nicht allgemein bekannt und bedacht wurde. Er hätte heute keinen Grund zur Klage: Wenn man ein Dutzend beliebiger Werke zur Geschichte der Naturwissenschaften durchblättert, dann stößt man praktisch überall auf seinen Namen und seine Verdienste.
Der große Humboldt
Ein anderes prominentes Beispiel in diesem Zusammenhang ist Alexander von Humboldt (1769-1859), einer der bedeutendsten Gelehrten der Neuzeit. Humboldt war Grenzgänger und Dilettant auf verschiedenen Gebieten, obwohl er sich von Berufs wegen ursprünglich nur mit Bergbau befasste. Bekannt geworden durch seine fünfjährige amerikanische Reise hielt er weithin beachtete populäre Vorträge und veröffentlichte ein gewaltiges Werk, wovon sein "Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung" nach wie vor jedem (wissenschafts-)historisch interessierten Leser bekannt sein dürfte (müsste!).
Es gibt kaum eine naturwissenschaftliche Disziplin, die der Preuße nicht durch eigene Beob-achtungen und Überlegungen bereichert hätte. Humboldt lieferte Beiträge zur Physik, Geologie und Mineralogie, zur Meteorologie und Klimatologie, zur Botanik und Physiologie und gilt als einer der Wegbereiter der modernen Geographie. Goethe bemerkte über ihn: "Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt."
Selbstverständlich ist hier auch auf Charles Darwin (1809-1882) zu verweisen, der zwar als Evolutionstheoretiker zu anhaltendem Ruhm gelangte, jedoch auf allen Gebieten, mit denen er sich beschäftigte, schon zu Lebzeiten als "seriöser" Forscher galt, ganz gleich, ob er über Tierzucht, über Orchideen oder über Korallenriffe schrieb. Dabei hatte der Engländer - worauf immer wieder hingewiesen werden muss - lediglich ein Studium der Theologie mit dem niedrigsten akademischen Grad, dem Bakkalaureus ("Bachelor"), abgeschlossen. Im Übrigen war er universitär, institutionell nirgends "eingebunden", er wirkte als Privatgelehrter. Nach heutigen Maßstäben wäre er in der akademischen Lehre auch nirgends unterzubringen, weil man gar nicht wüsste, ob er nun als Geologe, Botaniker, Zoologe oder Anthropologe einzustufen sei - und alles zusammen, das geht inzwischen nicht mehr. Man muss sich jetzt beispielsweise als Fluchtwegforscher oder als Neuroendokrinologe (Spezialist für die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Nerven- und Hormonsystem) ausweisen können, um eine reelle Chance auf eine akademische Lehrbefugnis zu erhalten.
Genaue Charakterisierungen und Abgrenzungen von Fachgebieten kristallisierten sich erst im 20. Jahrhundert mit zunehmender Spezialisierung heraus und treiben mittlerweile auch skurrile Blüten. Denn je enger eine Fachdisziplin umrissen wird, desto mehr muss sich der Vertreter dieser Disziplin eingeschränkt sehen: Sein Blick über den Tellerrand wird zunehmend eingeengt, bis ihm nur noch in einer kleinen Schüssel mit dünner Suppe zu löffeln erlaubt ist. Freilich mag mancher denken: Es ist besser, sich auf einem ganz engen Gebiet "innen" sicher zu wissen als viele Gebiete "außen" unsicher zu überfliegen. Allerdings wären mit dieser Einstellung viele der "großen Würfe" in der Vergangenheit der Wissenschaft nie möglich gewesen.
Die Quereinsteiger
Außenseiter sind bereit, unkonventionelle Denkweisen zu vertreten. Da sie meist wissen, dass sie als Außenseiter wahrgenommen werden, unternehmen sie in der Regel besonders große Anstrengungen, ihre Auffassungen durchzusetzen. Häufig allerdings werden sie von den "Insidern" als unerwünschte Reformer bekämpft.
So war Paracelsus (1493-1541) bemüht, die Medizin seiner Zeit zu reformieren. Er forderte, antike medizinische Texte durch eigene Forschungen zu ersetzen, und wurde mit der Einführung chemischer Heilmittel zu einem Wegbereiter der pharmazeutischen Chemie. Die Zeitgenossen dankten ihm seine Bemühungen nicht. Stattdessen überhäuften sie ihn noch nach seinem Tod mit Verbalinjurien wie "grunzendes Schwein" und socius diaboli ("Genosse des Satans"). Auch wenn man bedenkt, dass man in wissenschaftlichen Kontroversen damals weniger zurückhaltend war als heutzutage und dass die Einführung einer "politisch korrekten" Ausdrucksweise lange auf sich warten ließ, so sind das doch recht starke Worte.
Da ging es Arthur Koestler (1905-1983) schon wesentlich besser. Über ihn soll Albert Einstein gesagt haben: "Der allmächtige Gott weiß alles, aber Koestler weiß alles besser." Koestler war in der Wissenschaft ein Quereinsteiger. Er war von Haus aus Journalist und Reporter und berichtete in dieser Eigenschaft zum Beispiel über den Spanischen Bürgerkrieg (er saß als kommunistischer Spion in Francos Todeszelle). Bekannt wurde er vor allem durch erfolgreiche Romane; "Sonnenfinsternis" zählt wohl nach wie vor zu den bekanntesten.
Obwohl Koestler kein naturwissenschaftliches - und überhaupt kein akademisches - Studium abgeschlossen hatte, war er mit naturwissenschaftlichen Tatsachen und Theorien bestens vertraut und beschäftigte sich intensiv mit Wissenschaftsgeschichte. Mit seinen Veröffentlichungen dazu erregte er die Aufmerksamkeit von Fachvertretern verschiedener Disziplinen und genoss deren Respekt. Offenbar hatte er einen scharfen Blick für komplexe Zusammenhänge und (wissenschafts-)historische Merkwürdigkeiten, die er - seine Erfahrungen als Reporter haben dabei geholfen - gut zu recherchieren und spannend aufzubereiten wusste.
Könner und Spinner
Die Wissenschaft ist kein linearer, sondern ein dynamischer Prozess. Sie ist keine Ansammlung von unverrückbaren "Tatsachen" und "Wahrheiten". Für die Lösung ihrer vielfältigen Probleme gibt es keine Kochrezepte. Sie bedarf der Kreativität und lebt sozusagen von unterschiedlichen Temperamenten. Wie Einstein so schön sagte: "Ein vielgestaltiger Bau ist er, der Tempel der Wissenschaft. Gar verschieden sind die darin wohnenden Menschen und die seelischen Kräfte, welche sie dem Tempel zugeführt haben."
Auch Außenseiter finden in diesem "Tempel" ihren Platz, obwohl leider oft erst dann, wenn es für sie aus physischen Gründen zu spät ist. Auch für einen Wissenschafter ist es daher, trivialerweise, von Vorteil, ein hohes Alter zu erreichen. So bleibt ihm einfach mehr Zeit, seine Ideen zu verbessern und zu verteidigen. Hätte etwa Wegener dreißig oder vierzig Jahre länger gelebt, so hätte er seine Theorie noch stärker untermauert - und er hätte den "Tempel der Wissenschaft" als Lebender betreten dürfen.
Sind also, wie unsere wenigen Beispiele zeigen, Außenseiter in der Wissenschaft unerlässlich, so darf umgekehrt nicht der Eindruck entstehen, dass der Fortgang der Wissenschaft nur von Außenseitern garantiert wird. (Denn es gibt dazu sehr viele Gegenbeispiele.) Auch wäre es falsch, Außenseiter zu einem Mythos zu stilisieren. Denn zweifelsohne gibt es unter ihnen auch "echte Spinner", Querulanten, die keinem Argument zugänglich sind, die "etablierte Wissenschaft" grundsätzlich ablehnen und sich damit selbst ins Abseits befördern. Sie gehen anlässlich von wissenschaftlichen Veranstaltungen mit Behauptungen hausieren, dass sie etwa Darwin oder Einstein endgültig widerlegt oder die Theorie eines "ewigen Universums" endgültig bewiesen haben. Ob die eine oder andere heutige "Spinnerei" sich später aber doch als Erkenntnisgewinn darstellen wird, bleibt freilich abzuwarten.
Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt als Philosoph Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien.
Buchhinweise: Franz M. Wuketits hat jüngst ein Buch publiziert, in dem er das Thema dieses Artikels ausführlich behandelt hat: "Außenseiter in der Wissenschaft. Pioniere - Wegweiser - Reformer". Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg 2015, 302 Seiten, 19,99 Euro.
Doch ist auch der Philosoph Wuketits ein Grenzgänger: Heuer hat er auch einen Roman veröffentlicht. Darin wird in satirischem Scharfsinn geschildert, was passiert, wenn ein Kopfmensch in die Niederungen eines Baumarktes hinuntersteigt. Diese teils vergnügliche, teils bittere Parodie auf das Intellektuellendasein trägt den Titel "Mit Pessoa in den Baumarkt" und ist im Wiener Proverbis Verlag erschienen. (204 Seiten, 19,90 Euro).