Kinder und Jugendliche rebellieren gegen das System, das vielen von ihnen Wohlstand beschert hat - für manche Erwachsene eine Provokation. Handelt die "Generation Z" besonders eigensinnig?
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Greta Thunberg ist alles andere als eine typische Vertreterin ihrer Generation. Das ernste, aber harmlos aussehende Mädchen mit dem Asperger-Sydrom, einer Form von Autismus, neigt in seinen Äußerungen zu Extremen, aber es spricht vielen, die sich um das Klima sorgen, aus der Seele.
Nachdem sie unermüdlich auf Demonstrationen, in Diskussionsrunden, im EU-Parlament und anderen Parlamenten gesprochen hatte und zur Ikone eines Teils der Generation Z (ab 1996 geboren) geworden war, stieß sie während ihrer Rede auf dem UN-Klimagipfel im September 2019 verzweifelt und wütend hervor: "Menschen leiden, Menschen sterben, ganze Ökosysteme kollabieren. Wir sind am Anfang eines Massen-Aussterbens, und alles, worüber Sie reden können, sind Geld und Märchen vom ewigen wirtschaftlichen Wachstum. How dare you?!"
Wie können Sie es wagen? Sie, das sind die Politiker, die jahrzehntelang zu wenig für den Klima- und Umweltschutz getan und ihr ihre Träume und ihre Kindheit geraubt hätten. Gemeint sind aber auch die Erwachsenen im Allgemeinen, die vorgeben würden, ihre Kinder über alles zu lieben und sie im Stich ließen, die weiter am "Märchen von einem für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum" festhalten. Und Greta droht: "Alle kommenden Generationen haben euch im Blick."
Kompromisslosigkeit
Dazu passt, dass Thunberg gemeinsam mit 15 Kindern aus zwölf Ländern vor dem UN-Kinderrechtsausschuss Beschwerde eingereicht hat. Der Grund: Mit ihrer unzureichenden Klimapolitik würden Brasilien, Argentinien, Frankreich, die Türkei und Deutschland gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen.
"How dare you?!" Drastische Worte, bereits jetzt legendär. Aus dem Mund einer 16-jährigen Schülerin an die Mächtigsten der Welt - das polarisiert. Auch weil hier die Kommunikation zwischen den Generationen umgekehrt wird. Doch Greta ist nicht die Einzige ihrer Generation, die mit Erwachsenen schimpft, glaubt, sie erziehen zu müssen.
Diese Kinder, wie können sie es wagen?! Kleine, im Leben unerfahrene Menschen, sogenannte Minderjährige, für die ihre Eltern die Verantwortung tragen, rebellieren gegen gesellschaftliche Konventionen und das System, das vielen von ihnen Wohlstand beschert hat.
Zukunftsangst ist freilich nichts Neues: In den 1980ern trieb die Angst vor einem Atomkrieg die Jugend auf die Straße. Doch noch nie waren die Demonstranten so jung. Dass Greta Thunberg und ihr Umfeld in ihrer Kompromisslosigkeit und Schwarzmalerei manchmal übertreiben, nehmen manche Politikwissenschafter, Klimaforscher, Ökonomen und Staatenlenker zum Anlass, sich über die Jugend zu erheben. Was musste Greta Thunberg, neben Lob und sachlicher Kritik, nicht alles über sich ergehen lassen: Morddrohungen von Mitgliedern der Facebook-Gruppe "Fridays for Hubraum", einer Gegenbewegung zu "Fridays for Future", und vergiftetes Lob von Wladimir Putin und Donald Trump sind nur einige Beispiele.
Natürlich können hohe Emotionalität und Radikalität lächerlich bis gefährlich wirken, aber sind sie nicht seit jeher ein Vorrecht der Jugend? Wir alle wissen, dass endlose Kompromisse uns oft nicht weit bringen. Und wollen wir nicht, dass unsere Kinder selbständig denken und handeln? Die Frage ist nur: Wie viel kindlichen Eigensinn können wir zulassen? Und wo tendieren Eltern und das Establishment dazu, ihn zu unterdrücken?
Autonome Wesen
Kinder als autonome Wesen sind eine Herausforderung für ihr Umfeld und die Gesellschaft, in der sie leben. Die Aktivisten von Fridays for Future, Extinction Rebellion etc. und ihre Unterstützer gehören zu einer Generation, der oft früh große und kleine Entscheidungen überlassen wurden ("Willst du bei Papa oder Mama wohnen?", "Ist es jetzt nicht mal Zeit, ins Bett zu gehen?", Was sehe ich mir im Internet an, was nicht?...) und die früh in die Welt hinausgeschickt wird (Auslandsjahr in Neuseeland . . .). Sind sie im Denken und Handeln daher früher unabhängig von ihren Eltern und Großeltern als vorherige Generationen? Oder war die Zeit einfach reif für eine neue politische Jugendbewegung?
Der deutsche Literaturwissenschafter Wolfram Ette denkt in seinem Essay "Das eigensinnige Kind" über den Eigensinn und dessen Unterdrückung im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen nach. Als Beispiel nennt er Heinrich Hoffmanns 1844 erstmals erschienenen "Struwwelpeter". Da die Kinder darin nicht auf ihre Eltern hören, verunglücken sie, verlieren Gliedmaßen, andere sterben. Erstaunlich, dass es trotz der Grausamkeiten bis heute eines der erfolgreichsten Kinderbücher überhaupt ist.
Wolfram Ette zufolge ist der Kern aller kindlichen Sünden im "Struwwelpeter" die Lebendigkeit der Kinder. "Und umgekehrt besteht wohl der Kern aller elterlichen Erziehungsmaßnahmen, die Hoffmann weniger beschreibt als im Hintergrund seiner Geschichten wirksam sein lässt, in der Unterdrückung der lebendigen Substanz in den Kindern."
Großes Vertrauen
Heute seien "an die Stelle der körperlichen Strafe Überwachung und Disziplinierung getreten; was Foucault als ein zentrales Entwicklungsmoment der Neuzeit festhielt, hat durch den neoliberalen Umbau des sozialstaatlich orientierten Kapitalismus nun auch die Kindererziehung erreicht". Der jugendliche Eigensinn sei jedoch immer eine konkrete Reaktion auf vorgegebene Verhältnisse und da, wo die Unterdrückung im Prinzip akzeptiert werde, ein bürgerliches Phänomen. Als Beispiel nennt er den jungen Genossen in Brechts Drama "Die Maßnahme". Im Unterschied zu den professionellen Revolutionären stelle er nicht das System der Unterdrückung als Ganzes in Frage, sondern reagiere nur auf dessen Auswirkungen.
Im Unterschied zu Extinction Rebellion und anderen radikaleren Strömungen der Klimabewegung gilt Fridays for Future insgesamt als gemäßigt und genießt daher in der Bevölkerung großes Vertrauen. Die Mehrheit der Fridays-for-Future-Demonstranten ist verschiedenen Studien und Umfragen zufolge jünger als 20 Jahre, gebildet und weiblich.
In dieser Generation engagieren sich drei bis fünf Prozent der Schüler, Azubis und Studenten für den Klimaschutz, so die jüngste Shell-Jugendstudie. Weitere 20 bis 25 Prozent lassen sich von den Protesten mitreißen. Ein weiteres Drittel ist eher passiv und konsumorientiert - und der Rest kommt aus bildungsfernen Schichten und wird von Zukunftsängsten geplagt.
Der deutsche Bildungsforscher Klaus Hurrelmann spricht von der breitesten Straßenbewegung von jungen Menschen seit den 68ern. Und ähnlich wie bei diesen liege das gestiegene politische Interesse der Jungen wie der Älteren an der guten wirtschaftlichen Lage. In Österreich gibt es 29 Regionalgruppen. Und manche Eltern und Großeltern protestierender Jugendlicher engagieren sich nun bei "Parents for Future", "Scientists for Future", "Teachers for Future" oder "Museums for Future", um nur einige der zehn im Fahrwasser von Fridays for Future gegründeten und in Österreich vertretenen Bündnisse zu nennen.
Ist der heutige Protest nicht ein umgekehrtes Spiegelbild der 1960er Jahre? Was damals als modern galt, gilt heute als rückständig: Plastikartikel und Konserven, hoher Fleischkonsum und Stromverbrauch, Autofahren und Fliegen. Die 68er fanden ihr Thema, mit dem sie sich gegen ihre Eltern abgrenzten, in der Vergangenheitsbewältigung, die Fridays-for-Future-Generation fand ihres im Klimaschutz. Themen wie Frieden und soziale Chancengleichheit sind der Generation Z ähnlich wichtig, aber die Kriege auf der Welt haben sehr unterschiedliche Ursachen, ähnlich divers sind die Sozial- und Bildungssysteme. Dagegen ist der Klimawandel ein leichter fassbares und global gesehen einheitlicheres Phänomen.
Jahrzehntelang hieß es, die Jugend sei angepasst und unpolitisch. Das stimmte nie wirklich, beispielsweise besetzte Occupy Wall Street ab dem Herbst 2011 als Reaktion auf die Finanzkrise öffentliche Plätze (wenige Aktionen auch in Österreich). Aber nie waren die politischen Demonstranten so jung wie bei Fridays for Future. Die sozialen Medien haben ihnen Gehör verschafft, dennoch wurden bisher nur wenige ihrer Forderungen an die Politik umgesetzt. Die weltweiten CO2-Emissionen steigen weiter, die Weltklimakonferenz in Madrid Ende 2019 ging fast ergebnislos zu Ende.
Wie geht es weiter?
Der 20. September 2019 gilt als bisheriger Höhepunkt der Bewegung. Damals demonstrierten Millionen Menschen weltweit für besseren Klimaschutz, beim nächsten Klimastreik Ende November waren es weit weniger. Der Protestforscher Wolfgang Kraushaar, Politologe am Hamburger Institut für Sozialforschung, hält es für schwierig, auf Dauer so viele Menschen zu mobilisieren. Schon jetzt nehmen viel weniger Jugendliche an den freitäglichen Schulstreiks teil, nicht einmal mehr in jeder Großstadt wird jeden Freitag gestreikt.
Kraushaar zufolge geht es nun darum, sich professionell zu organisieren, die Sympathie der Bevölkerung zu erhalten - und Aktionen wie jene auf dem Twitter-Kanal von Fridays for Future einen Tag vor dem Heiligen Abend zu vermeiden: "Warum reden uns die Großeltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei." Es folgten die Wut der Internetgemeinde und eine prompte Entschuldigung von Fridays for Future. Aber das Internet vergisst nichts.
Wie geht es nun mit den Klimaprotesten weiter? Viele Organisatoren der ersten Demonstrationen hatten politische Vorerfahrung. Einige haben wegen zu hoher Belastung aufgegeben oder ihr Pensum zurückgeschraubt. Jetzt beteiligen sich zunehmend Jüngere, die von Grund auf in die politische Arbeit eingewiesen werden müssen.
Martina Gille, Soziologin am Deutschen Jugendinstitut in München, glaubt in jedem Fall an einen langfristigen Effekt der politischen Bewusstseinsbildung und Aktivität auch über Fridays for Future hinaus. Im Prinzip hält die Protestbewegung Abstand zum etablierten Politikbetrieb, aber einige führende Mitglieder sind schon länger Mitglied der Grünen, etwa das deutsche Aushängeschild von Fridays for Future, Luisa Neubauer. Seit dem Schülerstreik gewinnen die Grünen auffallend stark Mitglieder und Wähler. In Österreich hat sie das bekanntlich zum Juniorpartner in der neuen Regierung gemacht.
Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt und arbeitet als Journalistin für Kultur- und Gesellschaftsthemen in Hamburg.