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Der renommierte Meinungsforscher Nikos Marantzidis über das Timing des Referendums, potentielle "Ja"- und "Nein"-Sager und das Wahlverhalten.
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"Wiener Zeitung": Herr Marantzidis, der griechische Premier Alexis Tsipras hat erst in der Nacht vom Freitag zu Samstag voriger Woche das heute stattfindene Referendum in Griechenland verkündet. Wie wirkt sich dieser extrem kurze Zeitraum auf das Wahlverhalten der Griechen aus?
Nikos Marantzidis: Die Griechen sind zum einen nicht geübt darin, was Volksentscheide angeht. Das letzte Referendum fand hierzulande im Jahr 1974 statt. Daran teilnehmen konnten folglich nur die heute über 60-jährigen Griechen und Griechinnen.
Ferner hat der Wähler auf eine Frage eine Antwort zu geben, an die er nie zuvor gedacht hatte (über die jüngsten Spar- und Reformvorschläge von Griechenlands öffentlichen Gläubigern EU, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds, Anm.).
Ferner sind in den letzten acht Kalendertagen seit der Verkündigung des Referendums in ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Sicht hier in so kurzer Zeit so unglaublich viele Dinge passiert. Die Dinge überstürzen sich regelrecht: Geschlossene Banken, Kapitalkontrollen, Warteschlangen vor den Geldautomaten, Tsipras' Fernsehansprache, die erste Wortmeldung von Ex-Premier Kostas Karamanlis nach dem 2. Oktober 2009. Das sind alles einmalige Ereignisse. Ein Novum. Dies muss der Wähler im Eiltempo zuerst verdauen - und daraus auch noch seine Schlussfolgerungen ziehen.
Die Wähler haben im Zeitraffertempo eine Entscheidung zu treffen, wofür sie vor sonstigen Wahlen, ob Parlaments-, Kommunal- oder Europawahlen, mindestens vier Wochen Zeit haben. Normalerweise können sie mehr oder minder in Ruhe zur Entscheidungsfindung kommen, sich in ihrer Freizeit informieren, sich mit Verwandten, Freunden und Bekannten austauschen.
Hinzu kommt das Timing. Es gab in Griechenland im Hochsommer noch nie Wahlen, dafür ist dies eine Unzeit. Noch einmal: Das ist eine absolut einmalige Situation.
Jüngsten Umfragen zufolge zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem "Ja" und dem "Nein" zu den Sparvorschlägen der Gläubiger ab. Wer sind die "Ja"-Sager, wer die "Nein"-Sager - und was bestimmt Ihre Entscheidung?
Wie schon bei den hiesigen Parlamentswahlen seit dem Jahr 2012 dominieren zwei Gefühle bei den Wählern: die Angst auf der einen und die Hoffnung auf der anderen Seite. Daraus ergeben sich zwei konträre Voten: Wer Angst hat, wird mit "Ja" stimmen. Für die "Ja"-Sager geht es unter anderem darum, dass Griechenland den Euro behält. Sie glauben, dass alles noch viel schlimmer werden kann. Das sind die Pessimisten.
Die "Nein"-Sager charakterisiert vor allem eines: die Hoffnung. Ihr Credo lautet: 'Schlimmer geht's nimmer.' Sie nehmen im Zweifel bewusst auch einen "Grexit", einen Ausstieg aus der Eurozone, in Kauf. Das sind die Optimisten. Es gibt bei beiden Wählergruppen aber auch auf einer zweiten Ebene Differenzierungen, die mit Blick auf den Ausgang des Referendums am Ende womöglich von entscheidender Bedeutung sein könnten.
Welche sind das?
Bei den potentiellen "Ja"-Sagern herrscht auch ein teilweise starker Unmut über die auch ihrer Ansicht nach harten, womöglich zu harten Sparforderungen der Gläubiger. Einem Inselbewohner würde beispielsweise die von Gläubigern geforderte drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer in Regionen, wo bisher Steuerprivilegien gelten, unstrittig schaden. Das erzeugt Verdruss, sogar Protest.
Auf der anderen Seite gibt es auch potentielle "Nein"-Sager, die zwar mit Blick auf die Gläubiger sagen: 'Es reicht!' Zugleich denken sie aber auch: 'Vielleicht haben die anderen doch recht.'
Der kompakteste Block der Wähler sind jedenfalls die Griechen, die gegen den Euro und sogar gegen die EU sind. Hier gibt es starke anti-westeuropäische Kräfte aus dem links- aber auch aus dem rechtsradikalen Lager. Sie werden beim Votum entschieden mit "Nein" votieren. Überdies gibt es eine klare Trennlinie zwischen Jung und Alt.
Können Sie bitte konkret werden?
Wir Demoskopen sehen, dass die älteren Griechen mehr oder minder stark zum "Ja" tendieren. Wer jung und dazu noch arbeitslos ist, tendiert hingegen zum "Nein". Das ist die "Generation Krise". Sie sind "Nein"-Sager. Sie zögern nicht einmal vor dem Bruch mit den Gläubigern. Ihr Credo lautet: 'Wir jungen Griechen haben schon genug in der Krise bezahlt.'
Wie ist Ihr Gesamteindruck mit Blick auf das Referendum?
Ich hatte zuletzt in der Universitätsbibliothek ein dickes Buch in der Hand. Es ist von einem Briten, Geoffrey Chandler, geschrieben und handelt vom griechischen Bürgerkrieg (von 1946 - 1949, Anm.), der bekanntlich den blutigen Auftakt im Kalten Krieg darstellt. Das Werk trägt den Titel: "Divided Land" ("Geteiltes Land").
Gott sei Dank stehen wir Griechen nicht im Bürgerkrieg. Aber klammert man dies aus, erinnert mich das fatal an die Situation heute. Griechenland ist ein geteiltes Land.
Zur Person: Nikos Marantzidis, 48, Professor der Politikwissenschaften an der Universität Makedonien in Thessaloniki ist einer der renommiertesten
Wahl- und Meinungsforscher in Griechenland.
Unter seiner Leitung führt die Universität Makedonien regelmässig repräsentative Umfragen durch. Sie werden in der angesehenen griechischen Tageszeitung "Kathimerini" und dem privaten Fernsehsender Skai TV veröffentlicht.