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Carl Orff ist eine der tragenden Säulen der abendländischen Musik. Seine "Antigonae" ist ein neuer Ansatz des Musikdramas
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"Carmina burana" kennt jeder, und wenn nicht aus dem Konzertsaal oder von der CD, dann aus Film und Werbung. Carl Orff (1895-1982) hat sich mit diesem Werk dem kollektiven Bewusstsein eingeschrieben: Der "O Fortuna"-Chor hat ja auch wirklich (ich sage das jetzt bewusst:) nichts seinesgleichen in der abendländischen Musik. (Und der Hinweis, dass der Eingangschor in Werner Egks früher entstandenem "Columbus" verblüffende Ähnlichkeiten aufweist, fruchtet nicht: Bei aller rhythmischen Deklamation wirkt Egk doch wie ein städtischer Décadent gegen Orffs archaische Urgewalt.)
Aber es ist auch ein Jammer mit den "Carmina burana": Sie sind Orffs großer Knüller, aber keineswegs sein bestes Werk. Der stilistisch verwandte "Mond" (der in der Musik übrigens auch verblüffend nach Weill und in Orffs eigenem, fabelhaften Text nach Brecht klingt) ist weit überlegen, auch die (ebenfalls ziemlich brechtelnde) "Kluge". Orff, tief verwurzelt in Bayern mit einer Wohnstätte in Diessen am Ammersee, war zugleich Bürger der antiken Welt. Und so sind seine eigentlichen schöpferischen Großtaten, die ihn meiner Meinung nach zu einer tragenden Säule der abendländischen Musik machen, die griechischen Tragödien:
Antigonae (1949)
Oedipus der Tyrann (1959)
Prometheus (1968)
Dieser Trias kann noch "De temporum fine comoedia" (1973/1977), Orffs letztes Werk, hinzugerechnet werden.
Kaum ein Komponist war so ausschließlich auf die menschliche Stimme konzentriert. Selbst in Orffs Jugendwerken und den Werken vor "Carmina burana" finden sich kaum reine Instrumentalwerke. Da gibt es gerade einmal das Orchesterstück "Tanzende Faune" des 18-Jährigen, stilistisch in bester Strauss-Schreker-Zemlinsky-Umgebung und glänzend instrumentiert, zwei Streichquartette - und das war‘s an Instrumentalmusik. Die Instrumentalstücke aus dem "Schulwerk" stammen nahezu alle von Orffs damaliger Assistentin Gunild Keetmann (auch der "Gassenhauer", der, Orff zugeschrieben, im Film "Badlands" Verwendung findet und tatsächlich zum Gassenhauer wurde).
Angesichts dieser höchst eigentümlichen Konzentration auf wortgebundene Musik, ist es geradezu logisch, dass Orff dem symphonischen Drama misstraut: Orff hat das Gefühl, Wagner und Richard Strauss hätten es dermaßen perfektioniert, dass eine Weiterführung lediglich eine Kopie von deren Ästhetik wäre. Und so geht er einen anderen Weg: Seine Musik dient dazu, dem Wort den Affekt wiederzugeben. Die instrumentale Begleitung beschränkt sich darauf, Klangräume aufzuschließen und Zeichen zu setzen.
In "Antigonae" führt Orff diesen Ansatz zum ersten Mal in voller Konsequenz durch. Als Text verwendet er Hölderlins wortgewaltige Übersetzung des Sophokles-Dramas. Die Singstimmen deklamieren auf einem Ton, im Affekt springen sie in die Oktave, brechen in Melismen oder engstufig zuckende Kantilenen aus. Das Orchester, bestehend aus sechs Flöten, sechs Oboen, sechs gedämpften Trompeten, neun Kontrabässen, vier Harfen, sechs Klavieren und einem Arsenal von Schlagzeugen, wächst zum Höhepunkt des Dramas hin an und dünnt nachher wieder aus. Die Akkordik ist scharf dissonant, voller Spaltklänge und Dur/Moll-Mischungen. Der Seher Teiresias wird von den gedämpften Trompeten mit seltsam irisierenden Halteakkorden charakterisiert. Von herkömmlicher Oper ist dieses einzigartige Werk weit entfernt, es scheint zurückzugreifen auf kultisches Drama; soll man sagen auf "Bühnenweihfestspiel", wie Wagner seinen "Parsifal" nannte? Immerhin überlegte Wieland Wagner, Orffs antike Tragödien in Bayreuth zu inszenieren. Der Tod des großen Regisseurs beraubte die Musikwelt um etwas, was sehr gut zu Orff gepasst hätte: um eine Zeichensetzung.