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"Griechenland wandelt sich"

Von Ferry Batzoglou

Politik
"Das wichtigste Problem Europas ist: Die Schere zwischen Europas prosperierendem Norden und einem zusehends verarmenden Süden wird immer grösser", sagt Takis Theodoropoulos.
© Anthi Xenaki

Journalist und Autor Takis Theodoropoulos im Interview.


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Athen. Das "Cafe der Poeten" am "Viktoria"-Platz mitten in Athen ist sehr traditionsreich. Sein Name ist Programm. Die Porträts von gut zwei Dutzend modernen hellenischen Schriftstellern, Dichtern und Denkern hängen an der Wand des beliebten Lokals. Auch an diesem lauen Sonntag geht es hier schon sehr früh sehr lebendig zu. Ältere Männer, frisch rasiert, adrett gekleidet, schlürfen aus der Tasse griechischen Mokka, den womöglich besten in der griechischen Hauptstadt. Unentwegt spielen sie mit ihren schmucken Rosenkränzen, den Kombolois, sie lesen Zeitungen, sie plaudern locker über allerlei. Hier herrscht sie: die so oft beschworene mediterrane Leichtigkeit.

Das "Cafe der Poeten" ist das Stammlokal von Takis Theodoropoulos. Hier schreibt er seine Bücher, hier feilt er an seinen Reden, hier arbeitet er an seiner täglichen Zeitungskolumne in der konservativ-liberalen Athener Qualitätszeitung "Kathimerini". Theodoropoulos ist im dichtbesiedelten Athener Stadtviertel am "Viktoria"-Platz vor sechzig Jahren geboren. Nur durch ein Intermezzo in Paris unterbrochen, wo er Vergleichende Philologie, Theaterwissenschaft und Anthropologie der Griechisch-Römischen Kultur studiert hat: Hier im Athener Zentrum lebt er in einer kleinen Wohnung, hier wird er auch künftig bleiben.

Theodoropoulos war bis zum Herbst 2011 Leiter des "Nationalen Buchzentrums" (E.KE.BI) in Griechenland, das dem Athener Kulturministerium untersteht. Seine Aufgabe: die Buchkultur in Hellas fördern."Rund 15 Bücher" hat er selbst mittlerweile geschrieben. Ein bekanntes Werk: "Die Unverwüstlichen von Athen". Ein Roman. Die Protagonisten: die alten griechischen Philosophen. Sie leben noch. Im modernen Athen haben sie sich in Strassenkatzen verwandelt. Ihre Stimmen sind ein einfaches, liebevolles, unverständliches Schnurren. Doch sie laufen Gefahr, endgültig aus den Strassen Athens zu verschwinden. Denn über der Stadt schwebt das Gespenst des Fortschritts. Es sind die mächtigen Bauten für die Olympia 2004. Was sie bedrohen: die Freiheit der Katzen.

Theodoropoulos hat jenes Buch 2001 geschrieben. Damals boomte Athen. Der bevorstehende Euro-Beitritt befeuerte zuerst einen einmaligen wirtschaftlichen Aufschwung in Griechenland, anschliessend löste die Rückkehr von Olympia eine wahre Euphorie zu Füssen der Akropolis aus. Athen war zu jener Zeit eine pulsierende Metropole, (wieder) eine wirkliche Weltstadt. Die nachfolgende Krise zeigte: Es war ein Wachstum auf tönernen Füssen. Doch der Wandel in Griechenland, er ist schon präsent.

Wiener Zeitung: Gibt es in Athen einen Ort, der Sie besonders inspiriert?

Takis Theodoropoulos: Die Pnyx. Das ist ein Hügel, direkt westlich der Akropolis gelegen. Es ist ein Ort, der die Sinne stimuliert. Würzig duftende Zypressen ragen in den Himmel empor, Blumen blühen, bunte Schmetterlinge fliegen über das grüne Gras. Eine Oase mitten im Betonmeer, ein ganz besonderer Ort. Hier fanden in der Antike die ersten Volksversammlungen Tausender Athener Bürger statt. Das ist der Platz der Demokratie! Auf der Pnyx herrscht die absolute Ordnung. Die Akropolis thront auf dem Felsen gleich gegenüber, darunter liegt das gewucherte Athen, das absolute Chaos. Aber genau dieser Kontrast zwischen der Klassik und Moderne, der Ordnung und dem Chaos beschäftigt mich in meinen Büchern sehr stark. Ich gehe oft auf die Pnyx - gerade wegen der Aussicht. Für mich ist das ein besonderer Ort der Inspiration.

Wirkt die Antike im modernen Hellas, beim heutigen Griechen fort? Es gibt nicht wenige, die das ernsthaft in Zweifel ziehen.  

Ich finde: Ja. Die Antike ist auch im heutigen Hellas lebendig. Genau dies zeige ich in meinen Romanen auf. Besonders in Athen wird man ständig mit der Antike konfrontiert. Man braucht nur etwas Fantasie, um die Gegenwart darin zu sehen.

Griechenland hat sich Anfang 2010 an den Rand einer Staatspleite manövriert. Die Spuren der Krise sind hier in Athen unübersehbar.

Die Krise hat in Griechenland schon vor 2010 begonnen, sie wucherte wie eine heimliche Krankheit. Ich meine dies nicht nur ökonomisch. Dafür bin ich ohnehin nicht der richtige Ansprechpartner. Ich bin kein Ökonom, obwohl alle Griechen in den letzten Jahren zu Ökonomen geworden sind (lacht). Nur soviel: Ich persönlich bin zwar sehr genügsam. Sicher hat das Gros der Griechen aber über seine Verhältnisse gelebt. Die Griechen waren aber nicht die Einzigen auf dieser Welt. Nein, nein, ich meine mit heimlicher Krankheit schon vor 2010 den Zustand der griechischen Gesellschaft.

Konkret?

Die Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen waren der Wendepunkt. Die griechische Gesellschaft hatte sich im Vorfeld völlig auf die Spiele ausgerichtet. Sie mussten unbedingt gelingen, sie mussten auch noch schön sein. Nur diese 15 Tage zählten, wo die ganze Welt nach Griechenland, nach Athen schaut. Das war das oberste 'nationale Ziel'. Das war das Einzige, was zählte. Als die Spiele vorbei waren, wussten wir Griechen plötzlich nicht mehr, was wir tun sollten. Die griechische Gesellschaft ist regelrecht zusammengebrochen. Moralisch, psychologisch.

Spüren Sie selbst die Krise?

Niemand, der hier lebt, kann sich ihr entziehen. In meinem Metier bedeutet dies: Die Griechen kaufen immer weniger Bücher. Sie haben einfach kein Geld mehr dafür. Dies ist sehr bedauerlich. Denn der Grieche hat einen aussergewöhnlichen Bildungshunger. Dennoch: Ich will nicht klagen. Ich kann wenigstens meine Arbeit fortsetzen. Viele Griechen können das hingegen nicht mehr. Schlimmer noch: Immer mehr Menschen stürzen total ab. Kürzlich war ich in der Sophokleus-Strasse in der Athener Innenstadt, im Chaos. Dort, auf einem unscheinbaren Hof, beginnt pünktlich um 15 Uhr mittags die zweite Armenspeisung des Tages. Schon früh hatten sich ein paar hundert Menschen eingefunden. Geduldig standen die Bedürftigen so lange in der Warteschlange an, bis sie endlich dran waren. Dann kam der Moment, wo sich jeder eine Alu-Menuschale genommen hat, Deckel weg - und hastig assen sie die warme Mahlzeit. Im Stehen, im Sitzen. Die Not wird immer grösser - besonders unter den Griechen. Bei den Suppenküchen liegt der Anteil der Griechen schon bei bis zu 90 Prozent. Bis vor kurzem war das noch undenkbar: Da sah man fast nur illegale Einwanderer, die meisten aus Asien und Afrika. Ich lief zum ersten Mal dort vorbei. Zufällig. Ich blieb vor dem Hof nicht stehen, sondern ging schnell weiter. Ganz bewusst. Ich hatte Angst davor, auf dem Hof einen Bekannten zu sehen, der abgestürzt ist. Ich würde bei dem Anblick tiefe Scham empfinden. So als wäre es mir selber passiert. Wissen Sie, die Griechen haben anders als andere Völker nicht eine Schuld-Kultur, sondern eine Kultur der Scham. Das Schlimmste für einen Griechen ist, Scham und Schande für etwas zu empfinden und nicht etwa, ob er Schuld für etwas hat.

Das klingt so, als ob Sie in jenem Moment tief betroffen waren.

Ich war beinahe geschockt. Wir reden über Demokratie, Demokratie, Demokratie. Wie kann sie funktionieren, wenn immer Menschen in diese elende Verfassung geraten? Armut hat es in Griechenland zwar auch früher schon gegeben. Neu ist aber die Verelendung, diese Misere.

Sehen Sie die Demokratie in Griechenland, ausgerechnet in dem Geburtsland, in Gefahr?

Das tue ich. Die Demokratie stütze sich ganz elementar auf das Vertrauen der Bürger in die Politik, die Regierenden. Die verheerende Krise hat aber den sozialen Zusammenhalt, die Mittelschicht zerstört - und das Vertrauen in die Politik. Die Gleichung lautet aber: Ohne Mittelschicht gibt es keine bürgerliche Demokratie. Der Demokratie ist schon jetzt grosser Schaden zugefügt.

Erklärt dies den Anstieg radikaler Kräfte wie der rechtsextremen Goldenen Morgenröte?

Ja. Dies ist auch der Grund dafür, dass in Griechenland auch künftig nicht nur Populisten aller Couleur, sondern auch rechtsextreme Kräfte wie die Goldene Morgenröte Zulauf haben dürften, auch wenn es ökonomisch wieder ein bisschen aufwärts geht. Es ist ein fataler Fehler zu glauben, diese unsägliche Radikalisierung in der griechischen Gesellschaft sei nur ein Strohfeuer.

Das Wort Europa stammt aus dem Griechischen. Wie sehen Sie Europa heute?

Europa steckt in einer existenziellen Krise. Die Frage ist, wie man das föderale Europa konkret gestaltet. Das wichtigste Problem ist: Die Schere zwischen Europas prosperierendem Norden und einem zusehends verarmenden Süden wird immer grösser. Das kann nicht gutgehen. Das lässt das Misstrauen im Süden, gar eine Gegnerschaft zum Norden immer weiter wachsen. Wenn sich aber ein Graben des Misstrauens durch Europa zieht, kann Europa nicht funktionieren.

Noch hängt Athen am Tropf seiner öffentlichen Gläubiger-Troika aus EU, EZB und IWF. Die Troika sagt, Griechenland sei schon auf einem guten Weg, auf dem Weg der Besserung. Sehen Sie das auch so?

Ich sehe das anders. Die Rechnung geht in Griechenland nicht auf. Griechenland bleibt ökonomisch ein Patient. Der Grieche ist müde, erschöpft. Der Norden Europas wird den Süden zwar nicht sterben lassen. Das erinnert aber ein bisschen daran, wie die Franzosen früher nur zum Urlaub zum Club Med im Süden Europas flogen. Bliebe das so, wäre das aber eine Katastrophe für die europäische Idee. Ich bin davon überzeugt: Der Norden braucht den Süden. Ob Goethe oder Nietzsche: Sie haben immer in den Süden geschaut.

Sehen sich die Griechen vom Rest der Welt missverstanden? Wieder einmal?

Ich will hier etwas ausholen. Der Grieche hatte traditionell ein Problem mit den Amerikanern. Über Jahrzehnte herrschte hierzulande ein latenter Antiamerikanismus. Diese Abneigung war auch kultureller Art. In der jüngsten Krise ist dieser Antiamerikanismus einer grassierenden Deutschenfeindlichkeit, gar einem Antigermanismus in der breiten Bevölkerung gewichen. Der Grieche gefällt sich zwar schon seit jeher gerne in der Rolle, Gegner zu haben. Die Behauptung, die Deutschen seien die "neuen Besatzer" Griechenlands, ist natürlich völlig übertrieben. Die Griechen wissen das. Das ist ein Teil unserer schönen Heuchlerei, ein Teil unseres Charakters. Dennoch: Was der Grieche aber wirklich nicht leiden, nicht vertragen kann, ist eine, so sieht man das hier, Unflexibilität in der Haltung der Geldgeber aus dem Ausland, vor allem Berlin, die bei der Krisenbewältigung speziell in der Causa Griechenland an den Tag gelegt wird. Was anderswo als konsequente Haltung angesehen wird, gilt hier als unflexible Position. Die Parole 'Das ist eine Einbahnstrasse! Du musst das machen! Basta!' macht den Griechen schier wahnsinnig. Dies hat zutiefst kulturelle Wurzeln. Denn seit der Antike ist die griechische Kultur durch ein permanentes Verhandeln, das ständige Suchen nach Kompromissen gekennzeichnet. Ich gebe zu: Dabei ist mitunter eine gehörige Portion List, sogar Betrug im Spiel. Aber: Das ist nun einmal schon seit Jahrtausenden ein Wesensmerkmal der Griechen. Als die Perser Makedonien angriffen, baten die Griechen den Gott Apollon darum, er möge ihnen bitte nur die Hälfte der Übel schicken (lacht). Ich will aber auch Zuversicht versprühen: Die Griechen habe eine ganz besondere Eigenschaft, sich immer wieder den Gegebenheiten anzupassen. Das ist ihre Überlebenstrategie. Und auch heute ist dies sichtbar: Griechenland wandelt sich.

Inwiefern?

In den fünfziger Jahren wünschten sich die Bürger dieser Stadt ein besseres Leben für ihre Kinder. In den achtziger Jahren träumten sie davon, mehr Geld zu haben, vielleicht sogar reich zu werden. Der Materialismus war das dominierende Credo. Heute haben sie gelernt: man muss eine innere Demut haben. Das ist der Wandel. (macht eine kurze Pause) Sehen Sie das leere Geschäft dort drüben?

Ja, und?

Wissen Sie, was ich dort sehe? In diesem leeren Geschäft, zwischen alten, kaputten Schaufensterpuppen, hat eine Strassenkatze ihr neues Zuhause gefunden. Sie schnurrt. Einfach, liebevoll, unverständlich. Sie wird nicht verschwinden.