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Griechenlands D-Day

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Die Hellenen sollen ab 20. August finanziell auf eigenen Beinen stehen. Ein "Kapitalpuffer" macht es möglich.


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Athen. Derzeit türmen sich die Müllberge in ganz Athen. Die Abfallcontainer quellen über, immer mehr pralle Müllsäcke liegen auf den Straßen. Im Sommer kein Wunder: Der Müll in Athen stinkt zum Himmel. Diesmal liegt das nicht an streikenden Müllmänner- und -frauen, die mehr Lohn für ihre Knochenarbeit fordern. Ein gewaltiger Krater, 50 Meter breit, drei Meter tief, hat sich plötzlich in der einzigen Mülldeponie in Athen gebildet. Sie ist an den Rand ihrer Belastbarkeit angelangt. So darf kein neuer Müll aus der Vier-Millionen-Metropole herangekarrt werden. Die unweigerliche Folge: Die Müllberge in Athens Straßen oder Hinterhöfen wachsen und wachsen.

Auch Athens Schuldenberg wächst. Per Ende März 2018 belief sich Hellas’ Staatsschuld auf genau 343,74 Milliarden Euro. Das sind 44 Milliarden mehr als Ende 2009, als Hellas faktisch pleiteging. Die sogenannte Schuldenquote (gemessen an der Wirtschaftsleistung) ist von 126,7 Prozent (2009) auf 178,6 Prozent (2017) in die Höhe geschnellt. Weltweit weist nur Japan mit 253 Prozent eine höhere Schuldenquote auf.

Auf eigenen Beinen

Anders als Japan bleibt Hellas de facto von den internationalen Kapitalmärkten ausgeschlossen. Denn die Zinsen auf den zehnjährigen Hellas-Bond betragen aktuell 4,44 Prozent. Dies ist das gleiche Niveau wie im Frühjahr 2010, als Athen in seiner Not erstmals um Hilfskredite von den übrigen Staaten der Eurozone und dem IWF bat. Dabei sind Kreditpakete in der Causa Hellas seither geschnürt, nach und nach rund 250 Milliarden Euro nach Athen geflossen, im Gegenzug über ein Dutzend Sparpakete sowie hunderte Reformen in Athen beschlossen und umgesetzt worden. Das dritte Kreditprogramm läuft am 20. August dieses Jahres aus.

Nun die gute Nachricht: Es wird das letzte sein.

Die Griechen werden ab dem 20. August finanziell endlich wieder auf eigenen Beinen stehen. Nur: Das liegt eben nicht daran, dass Athen sich zu erträglichen Zinsen Gelder an den internationalen Kapitalmärkten beschaffen kann. Vielmehr baut sich Athen schon seit dem vorigen Jahr einen "Kapitalpuffer" auf. Bis August soll er rund 20 Milliarden Euro betragen.

Eine Herkulesleistung

Dies wird auch klappen. Denn erstens ist Athens Staatshaushalt saniert. 2016 und 2017 wies Athen primäre Haushaltsüberschüsse (ohne Schuldendienst) von 3,9 und sogar 4,2 Prozent auf, auch heuer werden es aller Voraussicht nach über 3,5 Prozent sein. So soll es bis zum Jahr 2022 weitergehen. Eine Herkulesleistung: Denn Hellas plagte 2009 ein primäres Haushaltsdefizit von über zehn Prozent.

Ferner brauchen die Griechen gar nicht alle Gelder aus dem 3. Kreditprogramm. Dafür stehen 86 Milliarden Euro zur Verfügung. Bisher sind erst 46,9 Milliarden Euro abgerufen. Die letzte vorgesehene Kredittranche soll 11,7 Milliarden Euro betragen. Damit sie bewilligt wird, muss Athen 88 ausstehende Spar- und Reformauflagen erfüllen.

Dies muss bis zum morgigen Donnerstag geschehen. Da findet eine in der Causa Hellas fürwahr wegweisende Sitzung der Eurogruppe statt. Im Ringen um Hellas’ weiteren Werdegang ist der 21. Juni so etwas wie der D-Day.

Die zwei entscheidenden Punkte auf der Tagesordnung: Was passiert mit Athens Staatsschuld? Wie kann gewährleistet werden, dass die Griechen auch nach dem Ende der Hilfspakete auf dem Spar- und Reformpfad bleiben und Reformen nicht "rückabwickeln"?

Schon seit Wochen haben sich Hellas’ öffentliche Gläubiger EU, EZB, IWF und ESM auf diesen entscheidenden Termin vorbereitet. Der Ausgang ist zwar offen. Ein klassischer Schuldenschnitt steht jedenfalls nicht zur Debatte. Dafür kommt sicher eine Schuldenerleichterung: längere Laufzeiten für die vergebenen Kredite und niedrigere Zinsen, Letzteres durch eine Umschuldung von den "teuren" Krediten des IWF und der EZB (mit relativ hohen Zinsen) in deutlich billigere ESM-Kredite.

Geldgeber uneinig

Fernen sollen die Spar- und Reformbemühungen der Griechen ab August durch ein komplexes Kontrollsystem mit häufigen Überprüfungen seitens der Gläubiger garantiert werden. Kontrollieren wird auch der IWF wie bisher, ohne sich aber finanziell am laufenden Kreditprogramm noch zu beteiligen.

Unstrittig ist: Diese Kontrollen in Athen im Zeitalter nach den Programmen werden in ihrer Frequenz und Tiefe weit über das hinausgehen, was ehemalige Euro-Programmländer wie Irland, Portugal und Zypern zu dulden haben. Griechenland, das Euro-Sorgenkind par excellence, ist ein Sonderfall. Daher wagt Athens Premier Alexis Tsipras den Begriff "Clear Exit" (wie in den Fällen der Ex-Programmländer), schon seit Monaten nicht mehr in den Mund zu nehmen.

Die Geldgeber sind im Endspurt vor der entscheidenden Eurogruppensitzung ansonsten grob in zwei Lager gespalten: Das eine Lager will eine möglichst begrenzte Schuldenerleichterung für Hellas kombiniert mit strengen Kontrollen nach dem Ende des letzten Hilfspakets. Angeführt wird dieses Lager der Hardliner von Deutschland. Die anderen sprechen sich umgekehrt für eine möglichst großzügige Schuldenerleichterung aus. Angeführt wird dieses Lager der "sanften" Geldgeber von EU-Kommissar Pierre Moscovici und dem IWF.

Brüssel geht davon aus, dass sich beide Lager in Sachen Laufzeiten der vergebenen Kredite auf eine Verlängerung um etwa sieben Jahre - und nicht wie teilweise gefordert um bis zu 15 Jahre - einigen werden. Berlin und Co. haben sich jedenfalls mit Blick auf einen weiteren Knackpunkt bei der künftigen Bedienung der griechischen Staatsschuld kompromisslos durchgesetzt.

"Französischer Schlüssel"

EU-Kommissar Moscovici, ein Franzose, hatte einen Mechanismus konzipiert, wonach Athens Schuldendienst fortan an die Entwicklung seiner Wirtschaftsleistung gekoppelt sein sollte. Das Prinzip: Schrumpft die griechische Wirtschaft, soll Athen sogar vom Schuldendienst befreit werden. Doch vor allem Deutschland lehnt dies ab. Der "französische Schlüssel", worauf die krisengebeutelten Griechen besonders hofften, ist in der Schublade verschwunden.

Das ist für die Griechen besonders bitter. Pikanterweise hatte ausgerechnet auch Hellas mit anderen Gläubigern am 27. Februar 1953 Deutschland an dessen D-Day in Sachen Staatsschuld nicht nur dessen damals enorme Staatsschuld auf einen Schlag um sagenhafte 60 Prozent erlassen. Obendrein gewährte auch Athen den Deutschen eine Wachstumsklausel für die Bedienung der restlichen Staatsschuld, wodurch das vielbewunderte deutsche Wirtschaftswunder erst möglich wurde. Die Lehre, die nicht wenige Griechen mit der hierzulande besonders beißenden Ironie daraus ziehen: "Besser man verliert zwei Weltkriege, als in der Eurozone bankrottzugehen."