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Griechenlands humanitäre Krise

Von WZ-Korrespondent Giannis Seferiadis

Europaarchiv
Soziale Praxen wie hier von "Ärzte der Welt" sind nachgefragt wie nie zuvor.
© © Vassilis Mathioudakis

NGOs und freiwillige Hilfe von Ärzten verhindern das komplette Desaster.


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Athen. "Wir haben nicht das Recht, eine humanitäre Krise in Griechenland zu verursachen", sagte Ende Juni der Vorsitzende der Eurogruppe, Jean-Claude Junker. Das war, nachdem die Athener Ärztekammer bei der UNO Alarm geschlagen hatte. Krankenhäuser sind nicht mehr in der Lage, die Kosten für Medikamente und Apotheken zu decken, weil die Krankenkassen ihre Zahlungen eingestellt haben. Tausende Patienten stehen ohne ihre dringend benötigte Medizin da.

Grund dafür seien das Memorandum und die darin festgelegten Zielvorgaben der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, erklärt Lykourgos Liaropoulos, Professor für Ökonomie und Organisation von Gesundheitsdienstleistungen an der Universität Athen. "Wenn es so weiter geht, zeichnet sich im Bereich öffentlicher medizinischer Leistungen für die Bürger, milde ausgedrückt, ein Drama ab", warnt Liaropoulos. "Das Memorandum hat dazu geführt, dass 30 Prozent der Bevölkerung von der öffentlichen Gesundheitsfürsorge ausgeschlossen wurden", kritisiert die Gewerkschaft der Vereinigungen der Krankenhausärzte Griechenlands. Dazu gehören Menschen ohne Versicherung, Langzeitarbeitslose, Berufstätige und Unternehmer, die insolvent sind oder ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr zahlen können, junge Akademiker mit Honorarverträgen, Einwanderer ohne Papiere.

"Die Ungleichheit, was den Zugang zu Trägern der Gesundheitsfürsorge betrifft, war nie offensichtlicher. Es gibt Menschen mit einem Gehalt von 500 Euro, die aufhören, ihre Medikamente zu nehmen, um ihre täglichen Lebenserhaltungskosten decken zu können", erklärt Georgios Patoulis, Vorsitzender der Ärztekammer Athen, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Zwar ist für Mittellose grundsätzlich soziale Hilfe vorgesehen, doch auch hier gibt es Fallstricke. Die griechische Gesetzgebung setzt für das Ausstellen eines sogenannten Armenpasses die Begleichung der Steuerschulden beim Finanzamt vor. Bürger, die nicht in der finanziellen Lage sind, ihre Schulden gegenüber dem Finanzamt zu tilgen, sind so von jeder Gesundheitsfürsorge ausgeschlossen. "Dies führt dazu, dass Personen, die Schulden bei ihrer Krankenkasse oder beim Finanzamt haben, trotz ihrer finanziellen Mittellosigkeit keinen Armenpass ausgestellt bekommen", sagt Patoulis.

Neue soziale Schicht der "neuarmen Griechen"

Mehr als 4000 Patienten, denen kein Zugang zu Gesundheitsfürsorge möglich ist, haben in der Praxis der "Sozialen Mission" Zuflucht gefunden. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt der Ärztekammer Athen und einer Nichtregierungsorganisation des Erzbistums Athen.

Die 35-jährige Evangelia Roussou aus Piräus wartet mit ihrem Ehemann Jean-Paul Vidalis in der Praxis der "Sozialen Mission" auf einen HNO-Arzt. Sie und ihre drei Kinder - 12, 10 und 4 Jahre alt -, sind unversichert und haben seit zwei Jahren keinen Zugang mehr zu öffentlichen Krankenhäusern. Sie sind Inhaber eines Informatikunternehmens, haben Schulden gegenüber den Krankenkassen und besuchen die Praxis nun zum dritten Mal.

"2008 hat unser Unternehmen 50.000 bis 60.000 Euro Gewinn erwirtschaftet, jetzt sind es gerade einmal 5000 bis 6000 Euro. Wir sind Teil einer neuen Kategorie: der neuarmen Griechen - eines Teils der Bürger, der bis 2010 keine Schulden gegenüber dem Staat hatte, seine Lieferanten bezahlt hat und der bei sich selbst und seinen Kindern gespart hat, um seine Verpflichtungen zu erfüllen. Jetzt sind wir hier gelandet", sagt Evangelia.

Immer mehr Menschen vom System ausgeschlossen

"Die Bilder, die wir in den ersten sechs Monaten der Tätigkeit der Praxis der ‚Sozialen Mission‘ erlebt haben, erinnern an ein vergessenes Griechenland, ein Griechenland, das wir nicht verdient haben", berichtet der Geschäftsführer der "Sozialen Mission", Kostis Dimtsas. "Es ist inakzeptabel, dass es im Jahr 2012 Schwangere gibt, die noch nie untersucht worden sind, Diabetiker, die gezwungen sind, eine Amputation als kostengünstigere Therapie durchführen zu lassen und Kinder, die ohne Impfung Kinderkrankheiten ausgesetzt sind."

"Immer mehr Menschen werden aus dem System ausgeschlossen", erklärt Nikitas Kanakis, Vorsitzender der "Ärzte der Welt". Die Nichtregierungsorganisation betreibt vier Multipraxen und zwei mobile Einheiten. Im zentralen Gebäude nahe dem Omonia-Platz in Athen warten Rentner, die nicht in der Lage sind zu zahlen, Einwanderer und andere soziale Gruppen auf eine kostenlose Untersuchung.

Die Gesellschaftsstruktur der Patienten hat sich gewandelt. "Zu den sozialen Praxen kamen vor drei Jahren 85 Prozent Zuwanderer und 15 Prozent Griechen. Jetzt ist das Verhältnis 50 zu 50", erklärt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Vereinigung der Krankenhausärzte Griechenlands, Dimitris Varnavas.

Kein Geld für Impfung: Angst vor Pandemien

Die Zahl der griechischen Familien, die ihre Kinder nicht impfen lassen können, wächst. "Allein in Perama, einem armen Viertel von Athen, haben wir mehr als 400 Kinder geimpft, deren einziges Verbrechen es war, dass sie nicht versichert waren", klagt Kanakis. "In diesem Fall trägt der Staat die größte Verantwortung, weil die Impfung eine staatliche Verpflichtung ist." Die Entwicklung bereitet auch Patoulis von der Ärztekammer Sorgen: "102 Kinder sind zur Praxis der ‚Sozialen Mission‘ gekommen, und 82 Prozent davon müssten geimpft werden; eine tickende Bombe für die öffentliche Gesundheit." Griechenland steht davor, eine Generation der Ungeimpften hervorzubringen, eine, die Pandemien schutzlos ausgeliefert wäre.

Ohne die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Ärzte wäre die Situation gar nicht auszudenken, sagt Spiros Michail, Direktor des Allgemeinen Krankenhauses in Athen. "Es gibt Menschen, die nicht einmal über die fünf Euro verfügen, die man für einen Termin bei der Ambulanz benötigt. Gäbe es die Selbstaufopferung der Ärzte und des Personals nicht, weiß ich nicht, wie sich die Situation entwickeln könnte."