· Beim Blick auf den Krieg in Tschetschenien ergibt sich für den Betrachter aus der Ferne seit Wochen das gleiche Bild: Separatisten, die sich erbittert gegen die heftigen russischen | Angriffe wehren. Die Moskauer Truppen kommen mit ihrer Offensive auf Grosny kaum voran, und die von ihnen angekündigte letzte Etappe des Kriegs scheint bis auf weiteres verschoben.
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Für den Außenstehenden ist dies auf Anhieb kaum zu verstehen: Eine der weltweit größten Armeen scheint nicht der Lage zu sein, eine einzige Stadt einzunehmen. Eine Armee mit 1,7 Millionen Soldaten
kann sich gegen einige tausend Partisanen ohne Panzer, Flugzeuge und schwere Artillerie nicht durchsetzen. Die Gründe, dass dieses militärische Missverhältnis offenbar wirkungslos bleibt, liegen auf
beiden Seiten: bei den Russen, die längst nicht mehr das Potenzial besitzen wie vor Jahren, und bei den Tschetschenen, die erfahren sind im Häuserkampf und im Kampf in den Bergen.
Die Armee der einstigen Weltmacht gleicht heute mehr einer bewaffneten Bande. Viele Einheiten setzen sich aus jungen, unerfahrenen Soldaten zusammen, die oft schon Probleme haben, mit einem Gewehr
umzugehen. Einige der im Kaukasus getöteten Soldaten waren nur sechs Monate in der russischen Armee. Und auch die Offiziere sind oft schlecht ausgebildet und demoralisiert. Die Soldaten bekommen
nicht genug zu essen und warten wochenlang auf Ersatzkleidung.
Gegen die erfahrenen und erbittert kämpfenden Separatisten haben unmotivierte Regierungstruppen im Kampf Mann gegen Mann kaum eine Chance. Die Tschetschenen kennen ihre Hauptstadt genau, sie haben
die besten Stellungen zum Verschanzen, und ein Wohnhaus können sie schnell zu einer Festung ausbauen. Die Russen, die Straße für Straße, Haus für Haus von den Rebellen erobern müssen, werden immer
wieder überrascht, denn die Separatisten lauern ihnen von allen Seiten auf.
Entgegen der russischen Verlautbarungen ist es den Truppen trotz wochenlanger Belagerung bisher nicht gelungen, Grosny abzuriegeln. Nach wie vor haben die Rebellen keine Probleme, neue Waffen und
Nahrungsmittel in die Stadt zu bringen. Trotzdem: Grosny wird eines Tages fallen. Nicht wegen der Stärke des russischen Militärs, sondern wegen der Taktik der Tschetschenen. Sie haben sich zunächst
für den Kampf in der Hauptstadt entschieden, weil sie dem Gegner dort die meisten Verluste zufügen können. Spätestens, wenn die eigenen Verluste den weiteren Widerstand gefährden, werden sie aus
Grosny abziehen. Sie werden den Krieg in die Berge des Kaukasus verlagern und weiterkämpfen · wie nach dem Verlust Grosnys im ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996.