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Großbritannens Sehnsucht nach Isolation

Von Siobhán Geets

Politik
Als Widerstand gegen einen Tyrannen, als Befreiung aus den Fesseln eines dumpfen Kolosses haben die Vertreter des EU-Austritts das Ergebnis des Referendums damals gefeiert.
© adobe stock/Ezio Gutzemberg

Die Ablehnung der EU liegt auch daran, dass die Insel ihren globalen Bedeutungsverlust nicht verkraftet.


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London/Wien. Im Norden von Europa, jenseits des Ärmelkanals, liegt das große Königreich. Sprechen seine Bewohner von Europa, dann reden sie von "The Continent" - Teil davon ist man nicht, wollte man nie sein. Wozu auch, die Briten hatten ihr eigenes Imperium, es erstreckte sich von Kanada bis Indien, es zog eine Linie quer durch Afrika von Kairo bis nach Johannesburg und umfasste mit Australien und Neuseeland einen ganzen Kontinent auf der Südhalbkugel.

Wer einmal so groß war, der tut sich schwer als einer von 28, als gleichberechtigtes EU-Mitglied, das im Rat der Staats- und Regierungschefs sogar von einem einzelnen Zwerg wie Luxemburg überstimmt werden kann.

Die Entscheidung zum Brexit vor fast zweieinhalb Jahren und die darauffolgenden Verhandlungen, Drohungen und Erpressungsversuche sind nur das vorläufige Ende einer langen Entfremdung.

Die EU als "Albtraum"

Einfach war es nie, Gegner der Union gab es auf der Insel immer. Um ihren Willen durchzusetzen, blockierte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher (1979 bis 1990), bis heute ein Vorbild für viele Tories und eine Art Totem-Kultfigur für die Brexiteers, jahrelang wichtige Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft. Mit den legendären Worten "I want my money back" (Ich will mein Geld zurück) handelte die "Eiserne Lady" den "Britenrabatt" aus: London musste weniger in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft einzahlen.

Bei einer Rede in Brügge legte Thatcher 1988 den Grundstein für jene anti-europäische Geisteshaltung, die sich bis heute hält. Die von den EG-Partnern angestrebte Europäische Union sei "ein Albtraum", "absurd" die Übertragung nationaler Hoheitsrechte an übernationale Institutionen. Thatcher bemühte jene Nationalismen (keine Übertragung von Kernkompetenzen nach Brüssel, keine gemeinsame Währung oder Zentralbank, kein "soziales Europa"), die seither so viele Nachahmer gefunden haben. Es war eine Kampfansage an den Europakurs der Franzosen und Deutschen.

Die EU, das ist für viele Briten in erster Linie Deutschland. So behauptete der spätere Brexit-Minister David Davis vor dem Referendum 2016, dass London nach dem Austritt nicht mit Brüssel, sondern mit Berlin verhandeln werde müssen. Die Geschichte zeigt, wie wenig Ahnung britische Politiker von den Strukturen der EU haben. Denn es kam ganz anders: In den Brexit-Verhandlungen standen die übrigen Mitgliedstaaten geschlossen hinter Irland, das auf einer offenen Grenze zu Nordirland besteht. Ausgerechnet Irland also, jene ehemalige Kolonie, die Großbritannien lange als seinen Hinterhof belächelt hat.

Deutschland als großer Gegenspieler des Empire - das ist aus den Köpfen vieler Briten nicht herauszukriegen. Eine mögliche Erklärung dafür klingt banal, aber einleuchtend: Die Entscheidung, 1939 gegen das Deutsche Reich in den Krieg zu ziehen, war wohl die wichtigste für Großbritannien im 20. Jahrhundert. Danach stand es als Sieger da, doch wenig später ging es den Verlierernationen Deutschland, Italien und Japan deutlich besser als Großbritannien. Die Briten, so der irische Kolumnist und Autor Fintan O’Toole in seinem aktuellen Buch "Heroic Failure: Brexit and the Politics of Pain", hätten sich durch diese wirtschaftliche Entwicklung wie Verlierer gefühlt: Haben wir versagt? Haben doch die Deutschen gewonnen?

Einen weiteren Höhepunkt der Deutschenfeindlichkeit sah man im Großbritannien in den 1990er Jahre, als die Deutschen sich wegen des Rinderwahns weigerten, britisches Beef zu essen. Einen "Krieg" gegen die Deutschen riefen die Boulevardblätter der Insel daraufhin aus - eben jene, die sich im Vorfeld des Brexit-Referendums nicht zu schade waren, die Lügen des EU-Austrittslagers groß auf ihre Titelseiten zu hieven. Nachdem die EU in dieser Weltanschauung ein Werkzeug Deutschlands ist, ist der Austritt auch ein willkommener Abschied vom alten Gegner.

Übrig bleibt Little Britain

Doch die Ursache für das schwierige Verhältnis Großbritanniens zur EU, das letztendlich bald im Brexit münden wird, ist auch eine Folge des tief verwurzelten Entsetzens der Briten über die eigene Irrelevanz: das geschrumpfte Ego des einst so mächtigen Empires. Was in der frühen Neuzeit mit der Ansiedlung englischer, schottischer und walisischer Einwanderer auf der Nachbarinsel Irland begann, wuchs zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert zu einem Giganten heran. In seiner Blüte war das British Empire das größte Reich der Geschichte. Rund 23 Prozent der Menschheit lebten 1913 unter seiner Flagge.

Heute ist das Weltreich zerfallen. Übrig bleibt Little Britain, nur noch die Insel selbst gilt es nun zu verteidigen. Die Rückkehr zur "Splendid Isolation", zur glorreichen Isolation, die Wiedererlangung der nationalen Souveränität, ohne auf Brüssel hören zu müssen - dieses Versprechen hatten die Brexiteers den Menschen gegeben. Langsam dämmert auch ihnen, dass die Isolation so splendid nicht sein wird. Großbritannien kann die Europäische Union verlassen. Teil Europas wird es bleiben - ob die Briten das nun wollen oder nicht.