Volle Kraft retour? Eine wahre Nostalgiewelle hat der Brexit-Beschluss dieses Sommers ausgelöst.
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London. Den Brexit-Fans kann es nicht schnell genug gehen, mit der Rückkehr zu den "alten Zeiten". Ihr Sieg beim Referendum im Juni war für diesen Aufbruch das lang erhoffte Signal. Nun soll, mit der Abkoppelung von der EU, auch verflossene Größe neu zu Ehren kommen. Man wäre gern wieder, wer man einstmals war.
So dringen einzelne Tory-Politiker inzwischen darauf, dass die Regierung unmittelbar Vorbereitungen für die Einführung neuer Pässe treffen soll. Für die wahren Brexiteers ist der Brexit nicht zuletzt eine Frage separater Identität. All die burgunderroten Ausweise, denen in goldenen Lettern "European Union" aufgeprägt ist, sollen nach dem EU-Austritt prompt aus dem Verkehr gezogen werden. Stattdessen sollen die Träger britischer Pässe nur wieder, wie bis 1988, Bürger des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland sein.
Der frühere blaue Reisepass als Symbol des einstigen Empires
All die Jahre haben sich die EU-Gegner der Insel gesehnt nach der Rückkehr jenes dunkelblauen Passes, der für sie immer "ein Symbol für unsere Unabhängigkeit als starke, stolze Nation" war, wie es der konservative Unterhaus-Abgeordnete Julian Knight formuliert. Dieser blaue Pass war das Reisedokument der Briten seit den frühen 1920ern, als über dem britischen Empire die Sonne (noch) nicht unterging.
Das Schlüsselwort war stets "starke" Nation. "Stärke" und "Stolz" hingen an Einfluss und Assoziation. Übrigens benutzen bis heute Ex-Kolonien wie Kanada, Australien oder Indien, aber auch die USA, Blau als Farbe für ihre Reisepässe. Mit all diesen Ländern möchten Brexit-erpichte Briten lieber in Verbindung gebracht werden als mit den leidigen Nachbarn vom Kontinent, deren Einheitsfarbe Rot ihnen zutiefst verleidet ist.
Skeptische Landsleute fragen sich, wie viel Wunschdenken diesem Weltbild zugrunde liegt. Mehrere "blaue" Staaten haben ja, was den zügigen Abschluss von Handelsabkommen betrifft, schon abgewunken. Finanzexperten der City of London warnen immer nachdrücklicher, dass das britische Finanzzentrum im Zuge des Brexit in die Knie gehen könnte. Britische Militärs halten die eigene Armee für zu schwach, um noch, wie in früheren Zeiten, eine Invasion Britanniens aus eigenen Kräften abwehren zu können.
EU-Embleme werden auf der Insel schleunigst entfernt
Das mögen jene, die für den Brexit gestimmt haben, natürlich nicht hören. Sie wollen ja nur ihrer Freude darüber Ausdruck verleihen, nicht mehr "nach der Pfeife Brüssels tanzen" zu müssen. Die eigenen Grenzen wollen sie künftig eigenständig "kontrollieren" können. Und den geliebten Union Jack endlich nach Herzenslust ausrollen, wenn es dafür eine Gelegenheit gibt.
Überall sollen nun die EU-Embleme, wie die Insignien einer gestürzten Fremdherrschaft, abmontiert werden. Bald wird man auch bei Autokennzeichen das "EU" und den kleinen goldenen Sternenkreis abkratzen oder überkleben müssen - oder neue Nummernschilder produzieren, bloß noch mit "UK".
Insel-Nationalisten fühlen sich, keine Frage, obenauf in diesen Tagen. Wer abwägt, zieht sich Kritik zu. Die ewig geprügelte BBC ist kürzlich von Anti-EU-Veteranen der Tory-Fraktion allen Ernstes aufgefordert worden, zur "Last Night of the Proms" keine EU-Fähnchen in der Royal Albert Hall mehr zuzulassen. Für Brexit-Bannerträger wie Sir Bill Cash hat diese jährliche Konzertnacht tunlichst "eine patriotische Veranstaltung" zu bleiben. Deren Teilnehmer sollen inbrünstig "Rule, Britannia" und "Land of Hope and Glory" singen dürfen - und nicht bei der Europahymne an Ludwig van Beethoven denken müssen. Der gehört woanders hin.
Zufrieden mit den nationalen TV-Sendern sind die Brexiteers, solange diese brav national-historische Serien produzieren. Zurzeit entführt die BBC ihr Publikum sonntags um 21 Uhr mit "Poldark" erfolgreich ins Cornwall des späten 18. Jahrhunderts, während "Victoria" auf ITV, gleichzeitig und ebenfalls mit Top-Einschaltquoten, im 19. Jahrhundert bei Hofe spielt. Und im Kino findet man sich, bei neuen Filmen wie "Swallows and Amazons", mitten in den 1930er Jahren wieder. Inzwischen trifft man auf solche Wehmut um das Vergangene praktisch überall.
Hier und da wird gar die Wiedereinführung imperialer Maße gefordert. Extremnostalgiker wollen ihren Wein aus Pint-Flaschen trinken. Sie möchten mit lange ausrangierten Münzen bezahlen und beim Wetterbericht Temperaturangaben wieder in Fahrenheit statt Celsius hören und sehen.
Passend zu diesen nostalgischen Anwandlungen, hat die Regierung unter Premierministerin Theresa May gerade auch die Wiederbelebung der alten Grammar Schools, eines Typs spezieller Bildungsanstalten für die Elite im staatlichen Sektor, angekündigt. Noch Mays Vorgänger David Cameron war der Kampf um diese Grammar Schools wie "eine Schlacht aus der Vergangenheit" vorgekommen, die nur verhindere, "dass man sich den Herausforderungen der Zukunft stellt". Camerons Bildungsexperte David Willetts lästerte offen über "bringbackery" - den zwanghaften Rückgriff auf frühere Konzepte.
Mit derartigen "nostalgischen Gesten" suche Premierministerin May wohl die gegenwärtige Stimmung in ihrer Partei aufzufangen, meint der "Guardian"-Kommentator Martin Kettle. Gewiss hätten beim Brexit vielerlei Dinge eine Rolle gespielt, meint er. "Aber man kann den Brexit nicht vollständig begreifen, solange man nicht das enorm starke Gefühl bei vielen britischen Wählern versteht, dass die Vergangenheit allemal besser war, als es die Gegenwart ist." Und dass Großbritannien und Britisch-Sein früher einmal mehr galten als heute. Dass Britisch-Sein zweifellos ein Privileg war in der Welt.
Die alte "Royal Yacht Britannia" und neue Ausländerhetze
Am wüsten Ende der Politik bekommen nun polnische und andere EU-Einwanderer die neue Stimmung mit Stiefelabsätzen oder zersplitterten Flaschenhälsen zu spüren. Zwar streiten die Brexit-Wortführer einen Zusammenhang zwischen ihrer Anti-Immigranten-Rhetorik und diesen sich seit Juni mehrenden Gewalttätigkeiten ab. Aber die Verbindung ist, statistisch gesehen, kaum zu leugnen. Und die Täter sind überzeugt, dass die Gesellschaft hinter ihnen stehe. Mehrere EU-Regierungen haben sich darüber schon bitter in London beklagt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat entsprechende Vorfälle angeprangert und Teile der britischen Medien der Mitverantwortung geziehen. In der Royal Albert Hall mag "Rule, Britannia" noch für alle Welt lustig klingen. Auf nächtlichen Straßen, durch die aufgeputschte Jugendgangs auf der Suche nach Osteuropäern ziehen, tut es das nicht.
Unterdessen haben rund zwanzig Tory-Parlamentarier die Regierung beschworen, dem "Land of Hope and Glory" durch eine spezielle Investition zusätzlich Glanz und Glorie zu verschaffen. Sie haben vorgeschlagen, die "Royal Yacht Britannia", das 1997 trockengelegte Schiff der königlichen Familie, wieder in Betrieb zu nehmen (oder durch eine neue "Britannia" zu ersetzen, falls dies günstiger ist). Auch Außenminister Boris Johnson, einer der Top-Brexiteers, findet das offenbar eine feine Initiative. Die "Britannia" war ab 1954 das luxuriöse Verkehrsmittel des Königshauses, das Gefährt für royale Besuche in Commonwealth-Staaten und dazu ein Schauplatz wichtiger Handelsabschlüsse. Das könnte sie, glaubt Johnson, jetzt wieder werden, wo man sich mit neuen Abkommen an fernen Küsten wird eindecken müssen.
Der rechtskonservative "Daily Telegraph" hat sogar eine regelrechte "Rule, Britannia"-Kampagne gestartet, die dem gleichnamigen Gesang einen gänzlich neuen (und doch alten) Sinn gibt. "Großbritannien", so das Blatt, "entdeckt gerade seine uralte Rolle als Meeresnation und Handelsmacht wieder. In diesem Zusammenhang leuchtet der Symbolismus der königlichen Yacht vollkommen ein." Das Schiff könne der Aufnahme globaler Handelsbeziehungen in der Post-Brexit-Ära durch Großbritannien dienen - mit etwas Hilfe williger Royals, wie sich von selbst versteht.
Zum Leidwesen der Londoner Zeitung und ihres ehemaligen EU-Korrespondenten Johnson, der heute Herr des Foreign Office ist, hat sich Regierungschefin May bisher allerdings für die (teure) Idee noch nicht recht erwärmen können. Eine Neuauflage der "Royal Yacht Britannia", meinte May diese Woche, stehe erst einmal "nicht auf der Tagesordnung".
Ganz ausschließen will sie die Wiederkehr der "Britannia" im Zeichen des Brexit aber auch nicht. Welch "großes Erbe" dieses königliche Schiff verkörpere, sagte die Premierministerin, sei ihr "durchaus bewusst".