Mehrheit hält Schröder für überzeugender. | Mediale Inszenierung ohne großen inhaltlichen Neuwert. | Berlin. Weil jeder erwartet hatte, dass Angela Merkel besser abschneiden würde, als jeder erwartete, war am Ende niemand überrascht. Ebenso wenig überraschte Schröder, weil er genauso abschnitt wie erwartet. Er war der Favorit, der dennoch gewann.
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Das anderthalbstündige Fernsehduell zwischen dem deutschen Bundeskanzler und seiner Herausforderin am Sonntag Abend brachte im wesentlichen nichts Neues. Alle Argumente waren bekannt, keiner blieb dem anderen etwas schuldig. Keiner hat begeistert, keiner enttäuscht. Der Höhepunkt dieses Wahlkampfes war gleichzeitig sein Abbild: politisch langweilig und wenig innovativ.
Gleichwohl wurde deutlich, dass sich hier nicht die Vertreter einer künftigen Großen Koalition gegenüberstanden - die Gegensätze waren in fast allen Politikfeldern waren unüberbrückbar.
Zwei Welten
Die Union wolle die Mehrwertsteuer erhöhen und damit die Lohnnebenkosten senken, sagt Merkel. So könne man verhindern, dass täglich 1.100 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze vernichtet würden. Das Konzept sei "auf Sand gebaut", kontert Schröder, außerdem würge das die Binnenkonjunktur ab und belaste die Kleinen.
Rot-Grün hat die Reformen angepackt, die in den 90er-Jahren versäumt wurden, sagt Schröder. Was gut an den Reformen war, haben wir gemeinsam beschlossen, kontert Merkel. Im übrigen seien knapp fünf Millionen Arbeitslose eine Katastrophe und das Gegenteil dessen, was Schröder seinerzeit versprochen habe. Man könne sich jetzt nicht "hinsetzen und warten, dass die Reformen wirken".
Was Merkels Finanzminister in spe, Paul Kirchhof, vorschlägt, sei höchst unsozial und ungerecht, die Zeche müssten Schichtarbeiter, Krankenschwestern, Feuerwehrleute bezahlen, attackiert Schröder. Nicht was Kirchhof sagt, sondern was im Wahlprogramm steht, werde verwirklicht, verteidigt Merkel. Außerdem sei das derzeitige Steuerrecht zu kompliziert, zu bürokratisch.
Hinterher wird Deutschlands TV-Regisseur Nr. 1, Dieter Wedel, urteilen: "Schröder ist der größere Schauspieler. Ich hatte ihn ja selbst in einem Stück". Merkel lächelt sich um zehn Jahre jünger, Schröder macht auf erfahrenen Staatsmann. Merkel lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, Schröder versucht, jeden Anflug von männlichem Chauvinismus und Herablassung zu vermeiden, was ihm nicht immer leicht fällt.
Die Spin-Doktoren der beiden, Kajo Wasserhövel für die SPD und Willi Hausmann für die Union, konnten zufrieden sein. Ansätze einer Debattenstrategie werden sichtbar: Wie nicht anders zu erwarten, setzt Merkel darauf, den Eindruck zu verstärken, dass Schröder ein scheidender Kanzler sei, der mehr versprochen als gehalten habe. "Hätte Herr Schröder das Vertrauen seiner eigenen Fraktion, müssten wir nicht schon in zwei Wochen wählen. Ich weiß mich - im Gegensatz zum Bundeskanzler - meiner Truppe, meiner Parteifreunde sicher". Dagegen kann Schröder nicht an. Ebenso vorhersehbar baut Schröder auf seiner Leistungsbilanz auf, die erheblichen Reformwillen und Mut erfordert habe. Beides wirkt einstudiert, beides kommt nicht authentisch über den Schirm.
Vier Sender, vier Moderatoren, die nicht immer Herr der Lage waren, senden aus dem 550 Quadratmeter großen Studio D in Berlin-Adlershof, Schröder rechts, Merkel links, 19 Grad Wohlfühltemperatur, Hintergrund sachlich-kühles Blau, der Teppich mattrot: nichts ist dem Zufall überlassen, außer der Redezeit - und gerade die ist am Ende bis auf eine Sekunde ausgeglichen.
Schröder hat das erste Wort. Er nennt drei Schwerpunkte seines politischen Handelns und Wollens: Die Reform der sozialen Sicherungssysteme, eine ökologische Energiepolitik und eine internationale Friedensrolle der Bundesrepublik. Eindrucksvoll und klar, aber damit hat er auch sein Pulver verschossen. Zur Darstellung seiner Politik fällt ihm in den nächsten 90 Minuten kein neuer Punkt mehr ein - und auch in der Zusammenfassung am Schluss macht er nichts anderes als diese drei Punkte zu wiederholen.
Geteiltes Echo
Damit kann er zwar in den Kategorien "überzeugend" und "glaubwürdig" bei Blitzumfragen punkten (hier liegt Schröder mit 49 Prozent gegenüber Merkel mit 38 Prozent vorn), aber einen in die Zukunft wirkenden, tatkräftigen Eindruck macht er damit nicht. Hier liegt in den Sofort-Umfragen eindeutig die Herausforderin vorne.
Merkel konzentriert sich auf die Hauptsorge der Deutschen, die Schaffung von Arbeitsplätzen. Mit der Senkung der Lohnnebenkosten, mit einer Vereinfachung des Steuersystems und dem Abbau von Bürokratie, mit einem flexiblen Arbeitsrecht und weniger Gewerkschaftseinfluss will sie die Beschäftigung ankurbeln, den Standort Deutschland verbessern. Innovation und Forschung will sie erleichtern, insbesondere in der Gentechnologie und der Chemie, also in zukunftsträchtigen Bereichen. Hier liegt sie in der Kompetenz dreimal so hoch wie ihr Gegenüber. 30 Prozent trauen Merkel hier mehr zu als Schröder mit 10 Prozent.
Obwohl Merkel von Anfang an offensiv ist, gerät sie mehrfach in die Defensive, macht aber dabei keine gravierenden Fehler. Vor allem Kirchhof wird ihr immer wieder an den Kopf geworfen: Seine utopischen Ideen für eine radikale Steuerreform, Äußerungen zur Rolle der Frau, die laut Schröder sein konservatives Familienbild entlarven. Merkel wehrt sich, so gut sie kann - politisch ergiebig sind solche Geplänkel für beide Seiten nicht.
Gereizt reagiert Schröder auf eine Journalistenfrage zu seiner Frau, die sich über Merkels Kinderlosigkeit mokiert hatte: Seine Frau habe das Recht auf freie Meinungsäußerung wie jeder andere auch, und dass sie davon Gebrauch mache, sei einer der Gründe, warum er sie liebe. "Seine schwächste Passage, beinahe peinlich", kommentiert hinterher ausgerechnet Alice Schwarzer.
Merkels Eigentor
Einmal legt Merkel ihrem Kontrahenten den Ball vors leere Tor, der auch prompt einschießt. Sie meint, nach einer Reform des Steuersystems würden auch wieder die "Leistungsträger" zurückkehren, die derzeit steuerlich im Ausland veranlagt seien. Geschickt greift der Kanzler diesen Begriff auf und wendet ihn gegen Merkel: Für ihn seien "Leistungsträger" eben nicht die milliardenschweren Steuerflüchtlinge, sondern die Arbeiter, die keine Schlupflöcher nutzen können.
Zahlreiche Themen werden nicht behandelt, sondern nur gestreift: Benzinpreis (Merkel: die Ökosteuer sollte gesenkt werden; Schröder: die Ölmultis sollen auf Profite verzichten), Türkei-Beitritt (Schröder: "geostrategisch unverzichtbar", Merkel: "eine privilegierte Partnerschaft genügt"), Koalitionen (beide bleiben bei "ihren" Lagern, also Rot-grün versus Schwarz-gelb).
Dass der Medienkanzler die Walstatt als Sieger verlassen würde, hatte niemand bezweifelt. Aber dass immerhin 54 Prozent der Befragten fanden, Angela Merkel habe sich besser geschlagen als erwartet, war die eigentliche Sensation dieses ansonsten langweiligen Polittalks.
Das Medienereignis dieses Wahlkampfes war erst das zweite TV-Duell in der Geschichte deutscher Bundestagswahlkämpfe. Ein zweites hatte die Union abgelehnt. Sechs Tage vor der Wahl wird es jedoch noch einmal zu einer Direktkonfrontation der beiden Spitzenkandidaten kommen, dann aber im erweiterten Kreise von Joschka Fischer (Grüne), Edmund Stoiber (CSU), Guido Westerwelle (FDP) und Gregor Gysi (Linkspartei).