In der Diskussion über die österreichische Bundeshymne muss man sich auch bewusst machen, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Zeitpunkt höchster Not entstanden ist.
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Die Österreicher quälten ab dem Kriegsende 1945 bis zum Marshall-Hilfsplan von 1948 andere Sorgen als das Fehlen einer Bundeshymne. Immerhin stellte eine UNO-Kommission 1946 fest, dass Österreich von allen Staaten Europas "dem Hungertod am nächsten" sei. Als Maß der allgemeinen Not steht die Erhöhung der streng rationierten Lebensmittel von täglich 1200 auf 1550 Kalorien im November 1946. Glücklich die Schulkinder in der amerikanischen Besatzungszone: Die USA speisten sie täglich in der großen Pause mit 387 Kalorien in Form von Milchnudeln oder Eintopf.
In diesem allgemeinen Elend rief die Regierung dazu auf, dass jedes Stückchen Brachland mit Kartoffeln und Gemüse bebaut werde - mit der Folge, dass die Bevölkerung sogenannte Feldwachen organisierte, um nächtliches Abernten zu unterbinden.
In diesen tristen Tagen schrieb die Regierung auch einen Wettbewerb für ein "Lied hymnischen Charakters" aus, das Österreich "textlich und musikalisch würdig zu repräsentieren weiß". Der Text Paula von Preradovics gewann aus rund 1800 Vorschlägen und wurde am 25. Februar 1947 zur Bundeshymne erklärt.
Dennoch: Die notgeborene Travestie auf "Land der Berge, Land am Strome, Land der Äcker, Land der Dome" wurde ungleich populärer: "Land der Erbsen, Land der Bohnen, Land der vier Besatzungszonen . . ." Zwar nicht eben pietätvoll, aber verständlich, denn die USA und die UNO retteten die Österreicher von 1945 bis 1948 mit Spenden im heutigen Gegenwert von rund 45 Milliarden Euro vor dem Hungertod. Und diese Spenden bestanden vorwiegend aus Hülsenfrüchten, Trockenmilch und Trockenei. Also gelang es im Herbst 1948, die Tagesration von mittlerweile 1800 auf 2100 Kalorien zu verbessern.
Erst vor dieser Szene leuchtet ein, dass und wie nachdrücklich der "hymnische Charakter" im Volk Zuversicht wecken sollte: Zukunftsreich, begnadet für das Schöne, starkes Herz Europas, hohe Sendung, "mutig in neue Zeiten schreiten". Ebenso leuchtet ein, dass 60 Jahre später die "Heimat großer Söhne" keinesfalls nur noch den missachteten "Töchtern" missfällt. Also "streiten sich die Leut’ herum", wie denn die Töchter in der Bundeshymne den gebührenden Platz fänden. "Grammatikalisch grenzwertig" oder "ästhetisch ein Gräuel" steht gegen den Einwand, dass die "Brüderchöre" in der dritten Strophe weiter bestünden.
Nationalhymnen schildern vorwiegend heroisierte Zeitbilder, die bei entsprechenden Anlässen starke Identitätsgefühle auslösen sollen - natürlich unterstützt von aufwühlender Musik. Sie enthalten somit auch einen national bedeutenden und entsprechend emotional überhöhten Abschnitt der Zeitgeschichte. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die spanische Nationalhymne, die den häufig asynchronen Gefühlen der Spanier, der Basken und der Katalanen, emotional gerecht werden muss: Sie hat keinen Text.
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".
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