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Großes Gedränge im Luftraum

Von Michael Schmölzer

Analysen

Marschflugkörper, russische, US-amerikanische und türkische Kampfjets im Einsatz.


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Wien/Damaskus. Cruise Missiles, die von russischen Kampfschiffen in der Kaspischen See abgefeuert werden und deren Flugbahn niemand kannte. US-Kampfjets, die Stellungen des Islamischen Staates bombardieren, türkische F-16, die entlang der syrischen Grenze die Lage erkunden und dabei von aus Russland stammenden Abwehrsystemen ins Visier genommen werden. Von Moskau eigens entsandte Kampfflieger, die offiziell die IS-Terrormilizen bekämpfen sollen, in Wirklichkeit aber alle Rebellenverbände ins Fadenkreuz nehmen: Im Luftraum über Syrien herrscht mittlerweile großes Gedränge und Chaos. Die "Partner" treten einander auf die Zehen, die Zahl der Zwischenfälle nimmt zu.

So geschehen in der Nacht auf Donnerstag: Mindestens ein US-Kampfjet musste laut Pentagon seinen Einsatz abbrechen, weil er von einem russischen Kampfflieger abgedrängt worden war. Washington und Moskau haben zwar vereinbart, die jeweiligen militärischen Aktionen koordinieren zu wollen. Die Zusammenarbeit, so vorhanden, lässt aber viel Platz für fatale Fehler. Laut US-Verteidigungsministerium musste in der gleichen Nacht ein weiterer F-16-Kampfjet seine Route massiv ändern, um nicht zu nahe an einen russischen Flieger zu kommen. Wie nah sich die Flieger genau gekommen waren, ist nicht bekannt.

Kein Vertrauen mehr nach der Krim-Krise

26 von russischen Kriegsschiffen abgefeuerte Marschflugkörper sollen jedenfalls ihre Ziele getroffen haben: Waffenfabriken und -lager, Kommandozentren und Trainingslager des Islamischen Staates. Über die Flugbahnen der Raketen sind die USA nicht informiert worden. Im Nachhinein ist klar, dass die Marschflugkörper über den Iran und den Irak gekommen sind.

Weil Russland nach der Okkupation der Krim und dem militärischen Engagement im Osten der Ukraine immer wieder durch Provokationen an der Nato-Außengrenze auffiel, ist die Unsicherheit auf Seiten der USA hoch. In den letzten Monaten sind russischer Kampfflieger dem Luftraum der baltischen Staaten regelmäßig gefährlich nahe gekommen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Moskau jetzt auch in Syrien den Westen bewusst provoziert. So ist es möglicherweise kein Zufall, dass der türkische Luftraum zuletzt zwei Mal durch russische Jets verletzt worden war und türkische Kampfjets von der Zielerkennung russischer Abwehrsysteme in Syrien erfasst worden waren.

Die Nato ist jedenfalls alarmiert. Am Donnerstag berieten die Verteidigungsminister der Allianz in Brüssel die besorgniserregenden Ereignisse. Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte, man sei bereit, alle Alliierten gegen Gefahren zu verteidigen. Das Eindringen russischer Kampfjets in türkischen Luftraum sei "inakzeptabel, gefährlich und rücksichtslos".

Russland wiegelt ab, es habe sich um einen Irrtum gehandelt, heißt es hier. Außerdem seien die Flieger nur wenige Sekunden über türkischem Territorium gewesen.

Die strategischen Ziele Russlands, der Türkei und der USA in Syrien sind völlig unterschiedlich. Jetzt ist klar, dass Moskau unter dem Vorwand, IS-Terroristen bekämpfen zu wollen, seine eigenen geostrategischen Ziele verfolgt. 90 Prozent der von Russland geflogenen Angriffe würden nicht dem IS, sondern Rebellengruppen gelten, die den IS und das Regime Assad bekämpfen, lautet der Vorwurf aus Washington. Für die Türkei und die USA ist Assad das Hauptübel, das bekämpft werden muss. Russland, seit jeher ein Verbündeter des Regimes in Damaskus, sieht in Assad den wertvollen Garanten für Stabilität und einen effizienten Kampf gegen den IS-Terrorismus.

In Moskau lässt man die Kritik aus den USA nicht gelten. Man habe genügend Hinweise darauf, dass auch die Vereinigten Staaten in Syrien nicht nur Einrichtungen des IS bombardierten, schießt Russland zurück. Offenbar ist man sich in Washington und in Moskau nicht einig, was im Fall Syrien genau unter dem Begriff "Terrorist" zu verstehen ist.

Die syrische Armee war zuletzt nur noch ein Schatten ihrer selbst, jetzt tritt sie selbstbewusster denn je zur Großoffensive an. Wichtige strategische Punkte im Westen des Landes sollen zurückerobert werden. Ziel der Bodentruppen ist die militärisch wichtige Ghab-Ebene. Im syrischen Staats-TV ist von einer "groß angelegten Offensive" die Rede, um die "Terroristen" zurückzudrängen - wobei aus Sicht der syrischen Regierung alle Rebellen "Terroristen" sind. Man habe die militärische Initiative wiedererlangt, tönt die Propaganda in Damaskus. Laut der oppositionsnahen syrischen Beobachtungsstelle toben nördlich der Stadt Hama die heftigsten Gefechte seit Monaten. Es sollen Boden-Boden-Raketen zum Einsatz gekommen sein. Russische Kampfjets bereiteten den Angriff mit Luftschlägen vor. Ob es Geländegewinne der syrischen Armee gibt, ist noch nicht klar. Die plötzliche Auferstehung der Kampfverbände Assads ist jedenfalls nur möglich, weil der Iran am Boden, Moskau in der Luft massiv nachhilft. Militärexperten betonen immer wieder, dass Assad ohne diese Hilfe nicht mehr an der Macht wäre.

Auch am Boden ist es schwer, den Überblick zu bewahren

Während im Luftraum über Syrien der Platz eng wird, ist es auch am Boden schwer, den Überblick zu bewahren. Hier sind neben der syrischen Armee die mit Teheran verbündete schiitische Hisbollah, Kampfeinheiten aus dem Iran, moderate Rebellen der Freien Syrischen Armee und neben den Kurden im Norden der Al-Kaida-Ableger Al-Nusra-Front aktiv. Zur völligen Verwirrung trägt bei, dass die jeweiligen Fraktionen wechselnde Allianzen eingehen. Das Gebiet nördlich von Hama etwa wird von einem Bündnis beherrscht, zu dem Brigaden der nicht-religiösen FSA ebenso wie die islamistische Al-Nusra zählen.

Durch das jüngste Eingreifen Russlands wird der seit mehr als vier Jahren tobende Bürgerkrieg wieder angeheizt. Zu leiden hat die syrische Zivilbevölkerung, die noch stärker ihr Heil in der Flucht suchen muss.