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"Großinquisitor" der Physik

Von Oliver vom Hove

Wissen

Leonardo Sciascias Buch über das rätselhafte Verschwinden des italienischen Atomphysikers Ettore Majorana im Jahr 1938 wurde neu aufgelegt. Viele Fragen sind bis heute offen.


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Im März 1938 verschwand im Süden Italiens der erst 32 Jahre alte Atomphysiker Ettore Majorana auf mysteriöse Weise. Hat er geahnt, wie sehr seine Wissenschaft in den Dienst des bevorstehenden Krieges genommen werden sollte? Ist er deshalb abgesprungen? Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia hat das 1975 in seinem aufregenden Bericht über den "Fall Majorana" vermutet. Die wahre Geschichte freilich wird wohl nie mehr geklärt werden können; dafür sind die überlieferten Fakten zu lückenhaft.

Gleichwohl stellt der "Fall Majorana" ein vielsagendes Rätsel rund um den Themenkreis Gewissenskonflikt und Verantwortungsethik von Physikern der Atomforschung im Schatten totalitärer Politik nicht nur der dreißiger Jahre dar. Dass der Berliner Wagenbach-Verlag nun Sciascias Studie wieder für den Leser zugänglich gemacht hat, verdient umso mehr Anerkennung, als es um den zeitlebens gesellschaftskritisch umtriebigen italienischen Schriftsteller, der 1989 im Alter von 68 Jahren in Palermo gestorben ist, zuletzt unverdient still geworden ist.

Gewiss, Sciascia hatte sich stark in die tagespolitischen Themen Italiens eingeschaltet, war seinerzeit einer der herausragenden Wortführer der kritischen Intelligenz des Landes gegen die Machenschaften der Mafia und deren korrupte politische Handlanger gewesen. Er ließ sich 1978 als Abgeordneter des Partito Radicale ins europäische und italienische Parlament wählen und verfasste auf dem Höhepunkt der Krise des christdemokratischen Systems in Italien den vielgelesenen analytischen Report "Die Affäre Moro". Sciascias gesamtes Werk ist durchzogen von Kritik an den wechselnden politischen Machtsystemen in Italien, vom faschistischen Staat Mussolinis bis zum ruhmlosen Untergang der vom Marasmus befallenen Nachkriegsparteien. Das nachfolgende "System Berlusconi" wahrnehmen zu müssen, ist dem streitbaren Homme de lettres erspart geblieben.

Vor allem aber war der bedeutende Schriftsteller Sciascia ein verzweifelter Liebhaber und kritischer Begleiter seiner Heimat Sizilien, dessen undurchschaubarem Menschenschlag er in zahlreichen Romanen, Erzählungen und Berichten auf die Schliche zu kommen trachtete: Nicht von ungefähr sind seine berühmtesten drei Romane - "Tag der Eule", "Jedem das Seine" und "Der Zusammenhang" - auf Deutsch unter dem bezeichnenden Titel "Das Gesetz des Schweigens" erschienen.

In dem Report über "Das Verschwinden des Ettore Majorana" befand sich Sciascia auf der Höhe seiner darstellerischen Meisterschaft. Spannend wie in einem ungelösten Kriminalfall hat er die gründlich erforschten Fakten vor dem Leser ausgebreitet. Der 1906 geborene Majorana, der aus einer angesehenen, gebildeten Familie aus Catania stammte, war 1929 summa cum laude in theoretischer Physik promoviert worden und hatte 1933 in Leipzig bei Werner Heisenberg studiert.

Fundierte Kenntnisse

Sein Studienfreund Edoardo Amaldi war damals wie Majorana Mitarbeiter von Enrico Fermi, des späteren italienischen Nobelpreisträgers von 1938, und wurde nach dem Krieg einer der angesehensten Physiker Italiens; er erinnerte sich, dass man Majorana im Kollegenkreis Fermis den "Großinquisitor" genannt hatte, da er sich gerade bei Vorträgen namhafter ausländischer Physiker durch fundierte Kenntnisse und einen kritischen Geist hervortat.

Amaldi war dabei, als sich Majorana Anfang 1928 bei dem nur fünf Jahre älteren Fermi als Mitarbeiter vorstellte. Fermi zeigte Majorana eine Tabelle, an der er tagelang gearbeitet hatte. Bereits am nächsten Tag kehrte Majorana zurück und verglich Fermis Zahlen mit seinen eigenen Berechnungen, dann meinte er trocken, Fermis Zahlen seien richtig. Noch vor der Entdeckung des Neutrons sprach Majorana in Rom von solchen Teilchen. Als Fermi auf einem Physikerkongress in Paris davon berichten wollte, reagierte Majorana ablehnend, ja er verbot es ihm geradezu. Kurz darauf wurde das Neu-tron entdeckt, und Werner Heisenberg veröffentlichte seine berühmte Arbeit über die Wechselwirkungsenergie der Kerne. Als Majorana davon hörte, meinte er nur, Heisenberg habe wahrscheinlich schon zu viel gesagt. 1932 stellte Majorana eine Theorie über den Spin auf, die damals nicht aufgegriffen und erst in den sechziger Jahren von den Russen wiederentdeckt wurde.

Im Winter 1932/33 reiste er im Gefolge des an der Harvard University lehrenden amerikanischen Quantenphysikers Eugene Feenberg nach Leipzig, wo er an Heisenbergs Seminar teilnahm. In seinen Briefen finden sich ebenso nüchterne wie genaue Beobachtungen über die umwälzenden Eingriffe der NS-Machthaber in die deutsche Gesellschaft. Bevor Majorana nach Italien zurückkehrte, besuchte er in Kopenhagen Niels Bohr.

Auffallend ist, dass Majorana seit seiner Rückkehr aus Nazi-Deutschland sehr schweigsam geworden war, dass er nur mehr wissenschaftlich publizierte und die elterliche Wohnung in Rom kaum mehr verließ. Ihr Bruder habe in diesen Jahren oft geäußert, die Physik sei auf einem falschen Weg, erinnerte sich Ettores Schwester Maria später. "Sein Interesse an Philosophie, das immer sehr lebhaft gewesen war, hatte sich noch erheblich gesteigert", gab Amaldi, der ihn zu jener Zeit mit Kollegen bisweilen zu Hause besucht hatte, später zu Protokoll. Bezeugt ist Majoranas damalige Hinwendung zu Schopenhauers Philosophie.

1929 hatte Majorana bei Fermi mit einer Arbeit über "Die Quantentheorie der radioaktiven Atomkerne" dissertiert. Der Sizilianer wies deutlich Züge eines frühreifen Genies auf. Mit seinem Lehrer Fermi hatte er sich wahre Wettkämpfe um komplizierteste Berechnungen geliefert, die, wie Sciascia schreibt, "Fermi mit dem Rechenschieber, an der Tafel oder auf einem Blatt Papier ausführte, Majorana hingegen im Kopf, ihm den Rücken zukehrend; und wenn Fermi sagte, Ich bin fertig!, nannte Majorana bereits das Resultat".

Im Sommer 1938, nach dem Verschwinden Majoranas, schrieb der wegen des faschistischen Rassengesetzes bereits vor der Emi-gration nach Amerika stehende Fermi in seinem Gesuch um Aufklärung des Falls Majorana an Mussolini: "Ich zögere nicht, Ihnen zu erklären, und ich übertreibe nicht, dass unter allen Gelehrten, italienischen und ausländischen, die ich Gelegenheit hatte, näher kennenzulernen, Majorana derjenige war, dessen geniale Begabung mich am meisten beeindruckt hat. Er war gleichermaßen befähigt, Hypothesen von außerordentlicher Kühnheit aufzustellen und eigene wie die Arbeiten anderer scharf zu kritisieren; ein erfahrener Rechner und profunder Mathematiker . . ."

Sciascia vermutete wohl zu Recht, dass das Schreiben "Seiner Exzellenz" Fermi an Mussolini kontraproduktiv war: Das Regime konnte den Ruhm dieses berühmtesten Physikers Italiens nicht für sich in Anspruch nehmen, und als Fermi in Stockholm vom schwedischen König den Nobelpreis überreicht bekam, bedankte er sich bei dem Monarchen mit Handschlag, statt nach faschistischer Vorschrift den Arm zum römischen Gruß zu erheben - eine Geste, die prompt wütende Kommentare in italienischen Zeitungen nach sich zog.

Anfang 1938 hatte sich Majorana, entgegen seiner jahrelangen Zurückgezogenheit, einer Berufung auf den Lehrstuhl für theoretische Physik in Neapel gestellt. Drei Monate lang hielt er wöchentlich jene zwei Vorlesungen an der Universität, die seine Lehrverpflichtung neben der Forschungstätigkeit vorsah. Mit Antonio Carelli, dem Vorstand des Instituts, unterhielt er sich danach stets ausführlich über Fragen der Physik, ohne auf seine eigenen Arbeiten näher einzugehen. Carelli hatte den Eindruck, dass der junge Professor an etwas "sehr Wichtigem arbeitete, von dem er nicht reden wollte".

Vom Meer abgewiesen

Am 25. März schiffte sich Majorana abends nach Palermo ein, Abschiedsbriefe hinterlassend, wie den an Carelli, in dem es heißt: "Ich habe einen Entschluss gefasst, der nunmehr unvermeidlich war. In ihm steckt nicht das kleinste Körnchen Egoismus, doch bin ich mir der Unannehmlichkeiten bewusst, die mein plötzliches Verschwinden Dir und den Studenten verursachen wird."

Am nächsten Tag kam Majorana doch in Palermo an, widerrief in einem Telegramm an Carelli seinen Abschiedsbrief und schrieb aus dem altehrwürdigen Grand Hotel Sole: "Das Meer hat mich abgewiesen (. . .) Halte mich nicht für ein Mädchen aus einem Stück von Ibsen, der Fall ist anders." In der folgenden Nacht kehrte Majorana per Schiff nach Neapel zurück. Doch schon das ist nicht mehr gewiss. Jedenfalls erinnerten sich später einige Zeugen, jemanden wie Majorana in Neapel gesehen zu haben, so auch der Pater Superior der Kirche Gesú Nuovo in Neapel, der damals einen Mann vom Aussehen Majoranas abgewiesen hatte, der um Zulassung zu den Klosterexerzitien ersucht hatte.

Aus alldem glaubte Leonardo Sciascia (und mit ihm viele andere) annehmen zu können, dass Majorana, der geniale Schüler Fermis, sein Leben nicht selbst zerstört, sondern in einem kalabrischen Kloster fortgesetzt haben könnte. 1934 schon hatten Fermi und seine Mitarbeiter begonnen, schwere Elemente wie Uran mit Neutronen zu beschießen. Dabei war ihnen entgangen - wie Majoranas Freund Amaldi später fassungslos zugab -, dass sie damals bereits Atomkerne gespalten hatten, ohne es zu merken. Hatte es Majorana gemerkt? Hat er die Möglichkeit der Atombombe vorausgeahnt?

Ende 1938 konnten Otto Hahn und Fritz Strassmann die Entdeckung der Atomspaltung nachweisen. Da war Majorana bereits mehr als ein halbes Jahr "verschwunden" - und mit ihm bis auf zwei bereits vor der Veröffentlichung stehende Aufsätze seine sämtlichen unpublizierten wissenschaftlichen Aufzeichnungen.

Man muss Leonardo Sciascias klar dargelegte Vermutung nicht teilen, dass der (auch religiös stark gebundene) Atomphysiker Ettore Majorana 1938 aus tiefer innerer Abwehr der befürchteten Folgen seines Forschungszweigs für sich selbst die Welt-Abkehr, nicht aber die Selbsttötung gewählt habe. Merkwürdig bleibt immerhin, dass Majorana bei seinem behaupteten Abgang aus dem Leben sorgsam darauf bedacht war, den Reisepass und sein gesamtes Barvermögen, das er Tage zuvor abgehoben hatte, mitzunehmen. Und ebenfalls ungeklärt bleibt, dass ihn in Neapel auch jene Krankenschwester wiedererkannt haben will, die ihm Wochen zuvor bei der Wohnungssuche behilflich gewesen war, wo-rüber Ettore der Mutter brieflich berichtet hatte.

Es ist unübersehbar, dass Sciascias Ansicht des Falls durch die von ihm eingeholten Meinungen der Familie Majorana maßgeblich bestärkt wurde, die unbedingt an das physische Weiterleben von Ettore glaubte. Das gilt vor allem für die Mutter, die bis zum Tod an ihrer Überzeugung festhielt, der Sohn sei am Leben.

Oliver vom Hove, in Großbritannien geboren, aufgewachsen in der Schweiz und in Tirol. Lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.

Leonardo Sciascia: Das Verschwinden
des Ettore Majorana. Aus dem Italienischen von Ruth Wright und Ingeborg
Brand. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011, 96 Seiten, 9,90 Euro.